„Sie verhielten sich immer feindselig“
Der Missionar John Chau wurde von Angehörigen des indigenen Volkes der Sentinelesen umgebracht. Nun fragt sich die Polizei, wie die Leiche geborgen werden kann
Port Blair John Chau hatte Angst vor seiner Mission im Indischen Ozean und ahnte, dass sie ihn das Leben kosten würde. Das belegen Tagebucheinträge, die die Washington
Post in Auszügen veröffentlichte. „Ich will nicht sterben“, schrieb der Missionar in sein Tagebuch, nachdem ein Kind bei einem ersten Versuch Chaus, auf die Insel Nord-sentinel zu gelangen, einen Pfeil auf ihn geschossen und seine Bibel getroffen hatte. Und doch kehrte der junge Mann zurück auf die Insel der Ureinwohner im Indischen Ozean – und wurde getötet. Diese Szene spielte sich nicht etwa vor Hunderten von Jahren ab, sondern vor weniger als zwei Wochen.
Der 27 Jahre alte Us-amerikaner John Chau hatte Fischer angeheuert, ihn auf die Nord-sentinel-insel zu bringen. Sie ist Teil der Inselkette der Andamanen, die zu Indien gehört. Er wollte die etwa 50 bis 100 isoliert lebenden indigenen Bewohner zum Christentum bekehren. Zum Schutz der dort lebenden Ureinwohner – der sogenannten Sentinelesen – ist es verboten, sich der Insel auf weniger als fünf Kilometer zu nähern. Diese ist nur 60 Quadratkilometer groß und weist einen von Sandstrand umringten Wald auf. Wie erwartet, griffen die Sentinelesen den 27-Jährigen an. Die Ureinwohner sind schon früher immer mit Pfeil und Bogen gegen Fremde vorgegangen. Die indische Regierung hatte deshalb in den 1990er Jahren beschlossen, das indigene Volk in Frieden zu lassen.
Der Fall heizt die alte Debatte an, ob man zu sogenannten unkontaktierten Völkern nun Kontakt aufnehmen sollte oder nicht. War der Tod des Amerikaners entsprechend heldenhaft oder unbedacht? Und: Wie viele solcher Völker gibt es heute noch und was bedeutet eigentlich „unkontaktiert“?
der Regel bezieht sich der Begriff „unkontaktiert“auf ethnische Gruppen, die isoliert von der globalisierten Mehrheitsgesellschaft leben – meist eine bewusste Entscheidung der jeweiligen Länder, um die Gruppen vor Krankheiten und Gewalt von außen zu schützen. Experten wie Linda Poppe von der Menschenrechtsorganisation Survival International erklären jedoch, dass der Begriff „unkontaktiert“irreführend sei. Denn: Die meisten dieser Völker hätten Kontakt zur Außenwelt gehabt, zum Bei- spiel während der Kolonialzeit. Und sich aufgrund schlechter Erfahrungen – etwa Versklavung, Kontakt mit Infektionskrankheiten wie Masern oder Grippe, Regenwald-abholzungen und Drogenschmuggel – zurückgezogen.
Survival International geht von deutlich über 100 unkontaktierten Völkern weltweit aus. Nach gegenwärtigen Zahlen sind das in Brasilien etwas über 100 (vor allem im Amazonasgebiet), in Peru zwischen 15 und 18, in Papua-neuguinea circa zehn, in Kolumbien drei, in Ecuador zwei sowie je eine Gruppe in Paraguay, Bolivien und Indien.
Ethnologe Frank Heidemann, der an der Ludwig-maximilian-universität München unter anderem die Verhältnisse auf der indischen Inselgruppe Andamanen erforscht, sagt, die Sentinelesen seien das einzige Volk, das tatsächlich nie wirklich kontaktiert worden sei – ein absoluter Sonderfall. Bei den Sentinelesen handle es sich nicht um eine Gesellschaft, die sich vor ein paar hundert Jahren zurückgezogen habe, sondern um Menschen, die seit Zehntausenden von Jahren isoliert auf der Insel lebten. Ohne Boote, ohne Angeln. Pfeil und Bogen seien ihre Jagdinstrumente. Auch zu britischer Kolonialzeit wehrten die Sentinelesen laut Heidemann Kontaktversuche ab und erlauben bis in die Gein genwart keine externen Besucher. Deshalb hält Heidemann den Vorstoß des Us-amerikanischen Missionars Chau auch für unverantwortlich, unüberlegt und naiv. Er habe die Ureinwohner etwa der Gefahr ausgesetzt, sich mit Krankheiten anzustecken, gegen die sie nicht immun seien. So könne ein ganzes Volk ausgelöscht werden.
Die indische Polizei steht nun vor einem Dilemma: Sollen sie versuchen, die Leiche zu bergen? Wie sollen sie in dem Todesfall ermitteln, wenn sie sich den einzigen Zeugen nicht nähern dürfen – und ohnehin niemand deren Sprache versteht? Es sei ein sehr schwieriger Fall, sagt der Polizeichef der Inselgruppe, Dependra Pathak. Einerseits gebe es eine Anzeige wegen Mordes, der nachgegangen werden müsse. Andererseits gelte in Bezug auf die Ureinwohner die Vorgabe: „Finger weg“.
Die Polizei berät sich auch mit Anthropologen, darunter Trilok Nath Pandit – der Mann, der sich wohl so gut wie sonst niemand mit den Sentinelesen auskennt. Bereits im Jahr 1967 führte er eine Expedition zur Nord-sentinel-insel an. Es folgten viele weitere, bei denen er zusammen mit anderen Forschern Geschenke wie Kokosnüsse, Metallgegenstände und lebende Schweine am Strand hinterlegte und aus sicherer Entfernung im Wasser die Reaktionen der Sentinelesen beobachtete. „Immer verhielten sie sich feindselig“, sagt er.
In all den Jahren kam Pandit nur einmal, 1991, den Sentinelesen richtig nahe. Damals wateten einige von ihnen – allesamt nackt, manche mit Kopfschmuck oder gelber Farbe im Gesicht – ins flache Wasser hinaus, um die mitgebrachten Kokosnüsse persönlich entgegenzunehmen. Warum sie das auf einmal taten, weiß Pandit nicht. Ein Junge mit einem Messer habe ihm aber bedeutet, er solle sich dem Strand besser nicht weiter nähern.