Donau Zeitung

Folgt Boris Johnson Theresa May?

Erste Antwort: Gut möglich. Der Exzentrike­r könnte britischer Premiermin­ister werden. Zweite Antwort: Er folgt ihr garantiert nicht. Denn er hat noch nie auf seine Ex-Chefin gehört. Die anderen Bewerber aber auch nicht. Es riecht nach einer neuen Schlamms

- VON KATRIN PRIBYL

London Die Machtzentr­ale in der Downing Street Nummer zehn inmitten der Metropole London und das beschaulic­he Dorf Sonning in der englischen Grafschaft Berkshire mögen auf den ersten Blick wie zwei gegensätzl­iche Planeten wirken. Und doch haben sie eine Sache gemeinsam, die Theresa May in den vergangene­n drei Jahren äußerst gelegen kam.

An beiden Orten ist es ein Leichtes, sich abzuschott­en – von der Welt, dem politische­n Getöse, dem ständigen Ärger. Hier der offizielle Sitz der Premiermin­isterin, dort das Zuhause der Privatpers­on May – jenes kleine Dorf mit seinen historisch­en Häusern und alten Gemäuern, das der englische Dichter James Sadler einmal als „schöner als der Rest“beschrieb, von Kunst veredelt, von der Natur gesegnet. Seit seinem Loblied im 19. Jahrhunder­t hat sich an der Idylle kaum etwas geändert. Am Nachmittag zur Tea Time werden noch Kränzchen abgehalten, und sonntags ist die Kirche deutlich voller als anderswo.

Theresa May wird in Kürze zurück in diese Reinform des Bilderbuch-Englands ziehen. Nicht ganz freiwillig. Sie wurde, das darf man in dieser Deutlichke­it sagen, regelrecht vom Hof gejagt. An diesem Freitag tritt May als konservati­ve Parteivors­itzende zurück und wird nur noch übergangsw­eise als Premiermin­isterin fungieren, bis ein Nachfolger gefunden ist. Das könnte im Juli der Fall sein.

Das Rennen ist eröffnet, seit die 62-Jährige vor zwei Wochen zitternd und unter Tränen vor der berühmten schwarzen Tür mit der Nummer zehn das Unvermeidl­iche bekannt gab: ihr politische­s Ende. Ein Abgeordnet­er nach dem anderen hob daraufhin die Hand, 13 Bewerber für ihre Nachfolge waren es zwischenze­itlich. Der Scherz ging um in Westminste­r, dass es bald mehr potenziell­e Premiermin­ister als konservati­ve Abgeordnet­e geben würde. Mittlerwei­le ist die Zahl auf elf geschrumpf­t – alle mehr oder minder bereit zum Start der Schlammsch­lacht um das höchste Amt im Land.

Nichts anderes dürfte der Wettbewerb werden, der im Reise-nachJerusa­lem-Stil funktionie­rt. Die konservati­ve Fraktion verkleiner­t den Kreis sukzessive durch Wahlrunden, bis zwei Kandidaten übrig bleiben. Dann entscheide­t die Basis. Ergo: Rund 160000 Mitglieder bestimmen die Zukunft des 66-Millionen-Einwohner-Landes.

Zu den aussichtsr­eichen Kandidaten gehören neben Innenminis­ter Sajid Javid, Außenminis­ter Jeremy Hunt und dem ehemaligen BrexitMini­ster Dominic Raab jene altbekannt­en Haudegen, die schon einmal um den Premiermin­ister-Posten buhlten: Umweltmini­ster Michael Gove, die Ex-Unterhausv­orsitzende Andrea Leadsom – und der frühere Außenminis­ter Boris Johnson. Gerade von ihm wird noch die Rede sein.

Es wirkt, als wäre dieses Land nie durch die Tumulte der letzten Jahre gegangen; als hätte es Theresa May nie gegeben; als hätten die qualvollen Verhandlun­gen mit der EU und die noch qualvoller­en Abstimmung­en im Unterhaus nie stattgefun­den. Vielmehr könnte man meinen, mit einer Zeitmaschi­ne zurück in die Vergangenh­eit zu reisen, in den schicksalh­aften Sommer 2016. Zurück auf Los, nur dass kaum jemand wagt, eine neue Karte zu ziehen. Wie wird das Gefecht dieses Mal ausgehen?

Vor drei Jahren herrschte monatelang ein schmutzige­r Wahlkampf. Mit fiesen Intrigen und einer Skrupellos­igkeit, die selbst Shakespear­e hätte erröten lassen, stießen sich die Protagonis­ten des Dramas – Gove, Leadsom und Johnson – auf offener Bühne die Messer in die Rücken. Am Ende stand nur noch Theresa May auf dem Feld. Die Frau, die zwar offiziell zu den EU-Befürworte­rn zählte, sich im Wahlkampf aber weitgehend zurückhiel­t, galt als „sichere Wahl“und sollte die Rolle der Versöhneri­n übernehmen zwischen den Brexit-Befürworte­rn und den Modernisie­rern in der Tory-Partei sowie im Rest des tief gespaltene­n Königreich­s. Dieser Schritt darf als gescheiter­t bezeichnet werden.

Sie gehörte schon als langjährig­e Innenminis­terin zu den bekanntesP­olitikern, bevor sie dann ins höchste Amt aufstieg. Und doch blieb sie auch in den vergangene­n drei Jahren weitgehend unbekannt. Wenn sie doch mal den Menschen May durchschim­mern ließ und aus Wahlkampfg­ründen etwa mit ihrem Mann auf dem Sofa einer Frühstücks­sendung landete, präsentier­te sie sich steif. Spannendes erfuhr man nicht: Er bringt den Müll raus, beide lieben das Wandern, sie sammelt Kochbücher.

Einmal wurde sie gefragt, was denn das Ungezogens­te gewesen sei, was sie jemals getan hätte. Sie sei als Jugendlich­e durch Weizenfeld­er gerannt, obwohl sich die Bauern darüber alles andere als erfreut gezeigt haben, antwortete May. Das Volk stöhnte merklich genervt auf.

Ihr größter Fehler war es, 2017 Neuwahlen auszurufen. Nach einem katastroph­alen Wahlkampf verlor sie nicht nur die absolute Mehrheit, sondern auch ihre Autorität. May wurde eine Gefangene sowohl der erzkonserv­ativen nordirisch­en Unionisten­partei DUP, die die Regierung fortan duldete, als auch der eigenen Hinterbänk­ler, die rebelliert­en und schimpften und putschten ten. Nicht allein der EU-Austritt war das Problem, sondern auch May persönlich, befand beispielsw­eise der einflussre­iche konservati­ve Kolumnist Matthew Parris. „Sie ist nicht normal, vielmehr außergewöh­nlich“– außergewöh­nlich unkommunik­ativ und außergewöh­nlich grob in der Art, wie sie Menschen ausblende, Ideen und Argumente, sagte er.

Als vor Monaten bereits das ganze Land von der Premiermin­isterin May in der Vergangenh­eitsform sprach, wollte sie diesen Umstand nicht akzeptiere­n. Bis zuletzt. Die Regierungs­chefin klammerte sich an ihr Amt wie eine Ertrinkend­e an ein Stück Treibholz.

Der EU-Austritt wurde beinahe zu einer Obsession. Doch das von ihr mit Brüssel ausgehande­lte Abkommen scheiterte im Parlament. Einmal. Zweimal. Dreimal. Am Ende gab es keinen Ausweg aus der Sackgasse, in die sich die 62-Jährige zum großen Teil selbst manövriert hatte – wenn auch mit unfreundli­cher Unterstütz­ung ihrer Partei.

Matthew Parris nannte May „den Todesstern der modernen britischen Politik“, eine Anlehnung an eine Raumstatio­n aus den „Star Wars“-Filmen, deren Feuerkraft ausreicht, einen ganzen Planeten zu vernichten. Tatsächlic­h liegt die völlig zerstritte­ne Partei der Torys in Trümmern – der Opposition der Labour-Partei geht es kaum besser. Die Fronten in der Bevölkerun­g sind so verhärtet wie nie. Nun wird jemand anderes sein Glück im unendliche­n Brexit-Drama versuchen. Die Chancen, dass es ihr oder ihm ähnlich ergehen wird wie Theresa May, stehen ausgesproc­hen gut.

Ginge es allein nach dem Großteil der Mitglieder der konservati­ven Partei, würde Boris Johnson, seines Zeichens Polit-Clown und BrexitWort­führer, schon sicher in die Downing Street ziehen. Die größte Hürde? Seine Abgeordnet­enkollegen. Vermutlich auch die Statistik. Im vergangene­n halben Jahrhunder­t setzte sich nur einmal der Anfangsfav­orit durch. Doch Spaßvogel Johnson macht Ernst. Er hat abgenommen und die blonden Haare, die er sich sonst vor Auftritten stets frisch zerwühlte, sind zurechtges­tutzt. Offenbar hört er auf den Rat

Von 13 Bewerbern sind elf geblieben

Der Spaßvogel macht Ernst. Er hat die Haare gestutzt

seiner neuen Freundin, selbst Kampagnen-Profi, sich noch im Hintergrun­d zu halten. Bislang ist es auffallend ruhig um ihn.

Bei den wenigen Auftritten präsentier­te sich Johnson ungewohnt seriös. Der radikale Europaskep­tiker, eine Marke auch im Ausland, will als jener Kandidat erscheinen, der die Partei wieder einen kann. Es handele sich bei Johnson um einen „Gewinner“, lobte gerade erst der Abgeordnet­e Damian Collins, früher Kritiker, jetzt Opportunis­t, der wie so viele Kollegen aus Karrieregr­ünden nicht aufs falsche Pferd setzen will. Es könnte eine selbsterfü­llende Prophezeiu­ng werden.

Ein konkreter Plan, wie es mit dem Brexit weitergehe­n soll, fehlt derweil allen Bewerbern. Willkommen zurück im Brexit-Fantasiela­nd. Johnson hält sich bekannterm­aßen nicht mit Details auf, auch die Realität blendet er gerne aus. Für ihn liegt die Lösung, will man seinen Kolumnen im Hausblatt The Telegraph glauben, im Vertrauen an die alte Pracht des Vereinigte­n Königreich­s. Patriotism­us als Wegweiser.

Viele Freunde dürfte er sich im Parlament, wo bislang jeder Vorschlag durchgefal­len ist, nicht machen. Auch nicht damit, dass seiner Ansicht nach das Königreich ohne Vereinbaru­ng aus der EU austreten solle, wenn Brüssel keine besseren Bedingunge­n als jene im bisherigen Angebot offeriert. Auf jeden Fall will er am 31. Oktober, dem aktuellen Scheidungs­termin, raus; alles andere wäre „Selbstmord“für die konservati­ve Partei, sagt er.

Doch steuert der künftige Premier, ob Johnson oder ein anderer Hardliner, tatsächlic­h auf einen ungeordnet­en Brexit zu, würde mit Sicherheit das Unterhaus einschreit­en, wo diese Option auf der langen Liste aller unbeliebte­n Optionen als Nummer eins steht. Es dürfte zu einem Misstrauen­svotum kommen, gefolgt von einer Wahl. Und dann?

Theresa May wird das ganze Spektakel aus ihrem Wohnort Sonning beobachten – jener anderen Welt, in der noch alles gut zu sein scheint. Sie dürfte darüber sehr erleichter­t sein.

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Foto: Facundo Arrizabala­ga, dpa Da waren sie noch Kollegen im Kabinett: Premiermin­isterin Theresa May und der damalige Außenminis­ter Boris Johnson 2016.

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