Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (142)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
Wird gemacht, Herr Doktor“, sagte Frau Schneevogt ehrfürchtig, denn sie war der Meinung, er sei Arzt. Etzel mußte lachen. Auch Warschauer grinste wohlwollend. „Na sieh da, sieh da“, freute er sich, „wir sind ja ganz munter. Die Schelmennatur bricht durch. Vivos voco. Mein lieber junger Mohl, ich verabschiede mich für jetzt, ennuyante Pflichten rufen mich, am Abend komm ich wieder herauf, Ihnen ein bißchen Gesellschaft leisten. Good bye, my dear. Pa!“Er winkte zärtlich mit der Rechten und wandte sich zum Gehen. Die grauen Rockschöße flatterten grotesk hinter ihm her. Frau Schneevogt begleitete ihn mit servilem Lächeln in den Flur.
Etzel blickte zornig gegen die Tür, durch die er verschwunden war. Das widerliche Getue, dachte er; was er bloß damit bezweckt, möcht ich wissen, ob er mich wie gewöhnlich ablenken und einlullen will oder ob er einen besonderen Coup im Sinne hat? Also heut abend… Jetzt heißt’s aut – aut, ich
wollt, es wär schon Mitternacht, ich wollt, es wär schon morgen. Er legte sich einen Plan zurecht. Aber was sollte ein Plan, wenn man mit einem solchen Gegner zu tun hatte. Eh man ihm ein Bein stellte, zertrat er einem die Zehen. Der aussichtsreichste Weg war der: sich kränker zu geben, als man war. Hinfälligkeit zu simulieren. Es sogar soweit treiben, als habe sich die Krankheit zu einer Krisis verschlimmert und die Wendung zum Besseren könne sich erst nach der Befreiung von einer gewissen geistig-seelischen Last vollziehen. Durchtriebene Fädelung. Was an leidenschaftlicher List, an andergastscher Hartnäckigkeit, an sechzehnjährigem Feuer in diesem Kopf und Gemüt aufgespeichert war, wirkte sich nun dämonisch in der Vorbereitung auf die entscheidende Stunde aus. Ich scheue in diesem Fall nicht vor dem vielgebrauchten Wort zurück, das Dämonische ist eine Grundbewegung in jenen Naturen, welche fähig sind, in angeborener Wahrhaftigkeit nach ihren Erkenntnissen zu handeln, mögen sie auch mit einem oberflächlichen Firnis von Intellektualismus behaftet sein oder, wie Etzel es gerne tat, in Verkennung ihrer tieferen Kräfte sich auf Idee und Logik festlegen. Es ist nichts weiter als eine kluge Sicherheitsvorrichtung, um mit dem besagten Dämon, einer unbequemen Erscheinung immerhin, nicht auf gar zu vertrautem Fuß verkehren zu müssen.
Gegen halb acht kam Melitta nach Hause, eilte gleich zu Etzel und erkundigte sich nach seinem Befinden. Er sagte, es gehe ihm besser, darüber bezeigte sie sich zufrieden, sie könne leider nicht daheim bleiben, fügte sie hinzu, um halb neun Uhr finde eine Versammlung der Angestellten ihrer Firma statt, wo über die Geschichte mit dem Liftunfall beraten werden solle. Um zehn werde sie aber bestimmt wieder da sein und nach ihm schauen. Mit dem Advokaten Silberbaum habe sie gesprochen, die vierzig M bezahlt, die Sache sei in guten Händen. Sie hielt ihm die Bescheinigung des Anwalts hin, er sah den Fetzen Papier nicht einmal an. „Mutter macht Ihnen eine Eieromelette, dazu kriegen Sie Tee“, sagte das Mädchen, „morgen früh sind Se dann die Schweinerei los.“Sie hatte plötzlich was Kameradschaftliches und Aufgeschlossenes, das in wunderlichem Gegensatz zu ihrem früheren bissig-herausfordernden Wesen stand, das ihn aber, da er nach der Ursache nicht lange zu forschen brauchte, als zu billig errungen nicht recht freute. Er stellte dabei Betrachtungen an über dieses „Billige“und fand, daß man die Menschen überschätze, wenn man ihre Naivität bei solchem Anlaß einer Kritik unterzog. Man ist nicht primitiv genug, überlegte er ernsthaft, man sollte primitiver sein, man ist wie ein zu scharf gespitzter Bleistift, der abbricht, kaum daß man zu schreiben anfängt.
Da ihm Frau Schneevogt emsig zusprach, verzehrte er die Hälfte des Eierkuchens, den Tee ließ er sich neben das Bett stellen. Zweifellos hatte auch die Freundlichkeit der Vermieterin ihre sehr materiellen Antriebe, aber das machte ihm wenig Beschwer, die war schon zu billig (obwohl sich am andern Tag erwies, als er seine Rechnung begleichen wollte, daß man sich mit den Käuflichsten am ehesten verrechnet). Es war dreiviertel neun, als er endlich das Läuten der Flurglocke vernahm. „Es regnet, guter Mohl“, sagte Warschauer beim Eintreten, „ich triefe.“Er nahm den Hut ab, schüttelte ihn, zog den Mantel aus und schüttelte auch den, suchte eine Weile nach einem Haken und legte beide Kleidungsstücke schließlich mit vielem Prusten und Räuspern auf denselben Schemel, auf dem gestern abend Melitta gesessen war. „Na, wie geht’s, wie steht’s, mein armer Lazarus?“fragte er, ergriff einen Stuhl bei der Lehne, hob ihn über den Tisch und stellte ihn neben das Bett, um sich darauf niederzulassen. „Hallo, was ist das?“stutzte er und lauschte. Es war das mechanische Klavier aus der Tanzschule, das schon wieder sein rasendes Geklapper begonnen hatte. „Doll. Und dabei können Sie schlafen, Mohl? Mein Beileid.“Er trat zum Fenster, schaute hinüber und sah vor den Fenstern drüben verkrümmte Schatten an grellbeleuchteten Vorhängen hin und her gleiten. Er lachte dumpf vor sich hin. „Hübsche Camera obscura“, sagte er, „illustrierter Charleston, man riecht geradezu den Schweiß des Vergnügens, und was man hört, geht ins Ohr wie die Posaunen von Jericho. So was hab ich gern. Da ist man gleich mitten im Sinn des Geschehens.“Etzel seufzte. Warschauer kehrte ans Bett zurück und sah ihn erschrocken an. Auch hiebei gab sich die fast possenhafte Übertriebenheit kund, deren er sich noch immer nicht entledigt hatte. „Möchten Sie nicht ein bißchen leiser reden, Professor“, bat Etzel. „Gewiß. Selbstverständlich. Die Nerven, selbstverständlich“, nuschelte Warschauer und sah aus, als könne er sich seine Rücksichtslosigkeit nicht verzeihen; „überhaupt, es soll ja bloß ein fliegender Besuch sein“, fuhr er mit betulicher Handbewegung fort, „ich möchte um keinen Preis zur Last fallen. Um keinen Preis die Rekonvaleszenz verzögern. Denn in der Rekonvaleszenz befinden wir uns doch bereits, nach den beruhigenden Angaben der Dame draußen zu schließen.“„Ich weiß nicht“, flüsterte Etzel, „mir ist wieder ziemlich schlecht… Aber wissen Sie, Professor, es ist so eklig, das Alleinsein in der Stube mit der schauderhaften Musik da drüben, schlafen kann ich ohnehin nicht, bleiben Sie doch noch…“„Schön, schön, bedarf keiner Worte, ich bleibe solang Sie wollen, Mohl. Das wäre eine traurige Sorte Freundschaft, wenn ich da auskniffe. Soll ich stillesitzen? soll ich Ihnen was vorlesen? sollen wir plaudern? Sie müssen sich gar nicht anstrengen, ich werde schon für die Unterhaltung sorgen.“
Was hat er vor? warum ist er auf einmal wieder eitel Honig? grübelte Etzel. Eine Sekunde lang erhaschte er durch die schwarzen Gläser hindurch den metallisch aufleuchtenden Blick Warschauers, und es lief ihm kalt über den Rücken. Das kurze Schweigen zwischen ihnen war wie die Pause zwischen dem Öffnen und Schließen einer Tür.