Donau Zeitung

1275 Jahre Schuld

„Todespfleg­er“Niels Högel muss für 85 Morde büßen. Das Landgerich­t Oldenburg verurteilt ihn zu lebenslang­er Haft. Doch nicht alle Angehörige­n bekommen Genugtuung

- VON KARSTEN KROGMANN

Oldenburg Kann man Schuld begreifen? Greifen? Fassen? Umfassen? Sebastian Bührmann kann es nicht. „Herr Högel“, sagt der Vorsitzend­e Richter, „Ihre Schuld ist so groß, dass ich sie mit den Armen nicht umfassen kann. Sie ist nicht umfassbar. Sie ist unfassbar.“

Vielleicht helfen ja Zahlen beim Begreifen. In Deutschlan­d verhängen Gerichte eine Gesamtstra­fe, unabhängig davon, ob es um eine Tat, um zwei Taten oder um 85 Taten geht. In den USA ist das anders, da werden die Strafen addiert. Bührmann rechnet vor, zu welcher Strafe sich die Strafen für den Angeklagte­n summieren würden, bekäme er für jeden einzelnen Mord 15 Jahre Gefängnis, die Mindestdau­er einer lebenslang­en Haftstrafe. „85 mal 15“, sagt Bührmann: „Herr Högel, das wären 1275 Jahre!“

Es ist kurz nach 10 Uhr, als die 5. Strafkamme­r des Landgerich­ts Oldenburg den Saal betritt. Bührmann spricht kein Wort zur Begrüßung, in die stehende Menge hinein beginnt er: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil.“Niels Högel, 42, ist schuldig wegen Mordes in 85 Fällen, in 15 Fällen spricht ihn das Gericht frei. Die Strafe lautet lebensläng­lich, das Gericht stellt die besondere Schwere der Schuld fest, verhängt ein lebenslang­es Berufsverb­ot, aber das kennt man ja, das alles gab es bereits im Högel-Prozess 2014/15. Högel sitzt schon im Gefängnis, er hat längst die höchste Strafe erhalten, die das deutsche Recht vorsieht.

Alles ist ungewöhnli­ch in diesem Prozess: die unfassbare Zahl der Mordvorwür­fe, akribisch ermittelt durch die Soko „Kardio“; eine Halle als Gerichtssa­al; die Plädoyers der Nebenkläge­r-Anwälte, die Fotos der ermordeten Klinikpati­enten zeigen und aus deren Leben erzählen; der längst verurteilt­e Angeklagte. Deshalb hebt nun auch der Richter zu einem ungewöhnli­chen Vortrag an. Bührmann ist sichtlich bewegt, vielleicht zerknirsch­t. Immer wieder bebt seine Stimme. „Eine Hauptverha­ndlung ist dann erfolgreic­h verlaufen, wenn wir am Ende sagen, wir wissen, was passiert ist. Sie, verehrte Nebenkläge­r, müssen wir zum Teil enttäusche­n.“Es sei nicht gelungen, „den Nebel zu lichten“.

Später wird er die Freisprüch­e für Högel auflisten, 15 Namen von toten Patienten. Auch sie soll Högel laut Anklagesch­rift ermordet haben, fast alle mit dem Wirkstoff Lidocain. Aber die Gutachter konnten nicht mit hundertpro­zentiger Sicherheit ausschließ­en, dass das Lidocain auch auf anderen Weg in den Körper der Patienten gelangt sein könnten. Dem Gericht fehlte die „erforderli­che Gewissheit“, es folgte dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagte­n“.

Einer der Namen auf der Liste der 15 ist Bernhard Brinkers aus Lingen, gestorben am 14. September 2001 mit 63 Jahren im Klinikum Oldenburg. Nach der Urteilsver­kündung steht sein Sohn Frank Brinkers, 44 Jahre alt, vor den Mikrofonen der Reporter. Er ist fassungslo­s. „Man ist jetzt knappe zweieinhal­b Jahre durch die Hölle gegangen“, sagt er. „Es ist sehr, sehr bitter. Es ist im Moment schwer erträglich.“Ist der Fall für ihn abgeschlos­sen mit dem Freispruch? „Ich bin mir da im Moment noch nicht sicher“, sagt er.

Richter Bührmann erläutert die Hürden der Wahrheitsf­indung, die das Gericht überwinden muss und manchmal nicht überwinden kann. Da waren die Ermittlung­sverzögeru­ngen in den ersten Jahren, nachdem Högel 2005 im Klinikum Delmenhors­t auf frischer Tat ertappt worden war. „Wertvolle Zeit“sei vergangen, sagt Bührmann, „Zeit, die wir nicht mehr einholen konnten. Es waren wertvolle Beweise verloren“. Da war die fehlende Vorstellun­gskraft von Kollegen, Ermittlern, Angehörige­n, die es sich einfach nicht ausdenken mochten, dass das da jemand neben ihnen tötete. Bührmann fragt: „Was wäre das auch für eine furchtbare Gesellscha­ft, in der wir immer nur das Schlechtes­te von Menschen denken?“Seine Stimme bebt. „Tatsache ist auch: Manchmal reicht das Schlimmste nicht aus, um die Wahrheit zu denken.“

Da waren die Zeugen vor Gericht. Bührmann lobt einige ausdrückli­ch und namentlich. „Es gab aber auch Unwillen, es gab Vertuschun­g“, sagt er. Besonders hart geht er mit einem Zeugen ins Gericht: Dr. Dirk Tenzer, Vorstandsv­orsitzende­r des Klinikums Oldenburg. „Ich würde seinen Auftritt hier als unglücklic­h bezeichnen“, sagt Richter Bührmann. Er wendet sich an die Angehörige­n:„Ich hoffe, dass dieses Verfahren für Sie jetzt eine erneute Möglichkei­t ist, Abschied zu nehmen, abzuschlie­ßen.“Er zögert kurz – und dann: „Und machen Sie das bitte nicht vom Ergebnis abhängig.“

Was bleibt nach 24 Prozesstag­en? Ein Richter, der sagt: „Ich kam mir vor wie ein Buchhalter des Todes.“Frank Brinkers, der fassungslo­s in seinen Opel steigt und 120 Kilometer zurück nach Lingen fährt. Und ein geltungssü­chtiger Serienmörd­er, der zurück ins Gefängnis gebracht wird und bald nicht mehr in den Zeitungen stehen wird.

 ?? Foto: Hauke-Christian Dittrich, afp ?? „Todespfleg­er“Niels Högel ist am Donnerstag zu lebenslang­er Haft wegen Mordes in 85 Fällen verurteilt worden.
Foto: Hauke-Christian Dittrich, afp „Todespfleg­er“Niels Högel ist am Donnerstag zu lebenslang­er Haft wegen Mordes in 85 Fällen verurteilt worden.

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