Donau Zeitung

Der Drang nach oben

Die Bilder sind noch frisch im Gedächtnis: Hunderte Bergsteige­r, wie an einer Kette gezogen, auf dem Weg zum Mount Everest. Später heißt es: Es gibt einen Toten, dann fünf, dann elf. Wird der Bergsport immer extremer – auch in den Alpen?

- VON MICHAEL MUNKLER, ANDREAS FREI, JONATHAN MAYER

Man ertappt sich dann doch dabei, wie das Wort „Wahnsinn!“über die Lippen rutscht. Da ist dieses zarte Männlein, 49, sonnengege­rbtes Gesicht. Freundlich in die Kameras lächelnd, nicht weil er überhaupt den Mount Everest bezwungen hat, sondern dies – Achtung! – zum 24. Mal. Weltrekord. Und noch ein Weltrekord hinterher: Die 23. Besteigung hatte Kami Rita vom Volk der Sherpas in Nepal nur sechs Tage zuvor geschafft. Deshalb: Wahnsinn!

24 mal 8848 Meter, macht 212352 Meter – nur mal so zum Spaß, wobei er natürlich nicht auf null Meter startete, das Basislager liegt ja schon auf 5200 Metern. Aber verrückt ist es trotzdem. Nur für ihn vielleicht nicht. Es ist ja sein Job. Als Bergführer lotst Kami Rita andere Alpinisten auf die Dächer der Welt. Auch auf das Dach der Welt.

Das 24. Mal war am 21. Mai. Drei Tage später meldete die Deutsche Presse-Agentur: „Stau am Mount Everest – fünf Todesfälle in drei Tagen.“Und wiederum einen Tag später: „Zahl der toten Bergsteige­r am Mount Everest steigt auf elf.“

Es gingen Fotos um die Welt, die aneinander­gereihte Bergsteige­r im Schnee zeigten, wie an einer Kette gezogen. Hunderte Teilnehmer kommerziel­ler Expedition­en wollten ein Schönwette­r-Fenster in den letzten Mai-Tagen nutzen, um den Gipfel zu erreichen. Tage mit halbwegs beständige­m Wetter, das man dafür benötigt, sind dort selten. Wie so oft hatten sich die meisten von Süden her auf den Weg gemacht, also von der nepalesisc­hen Seite.

Als dann eine Todesnachr­icht nach der anderen eintraf, meldeten sich Experten zu Wort, dass das doch ein „Wahnsinn!“sei mit dem Drang, einmal im Leben den Mount Everest zu packen, und viele dafür viel zu schlecht vorbereite­t seien.

Ist das wirklich so? Nimmt der Alpinismus immer extremere Formen an? Auch in unseren Bergen?

Chomolunga nennen ihn die Tibeter: Mutter des Universums. Ein klangvolle­r Name, verglichen mit dem heute gebräuchli­chen. Die höchste Erhebung der Erde ist nach einem britischen Landvermes­ser benannt: George Everest. Der Berg ist ein Mythos. Gewiss, es gibt formschöne­re, aber er ist nun mal der höchste. Kritiker bemängeln seit langem, dass Nepal zu viele Genehmigun­gen für die Besteigung ausgibt. Der Bergtouris­mus ist eine der wichtigste­n Einnahmequ­ellen des armen Landes. Mehrere hundert Berechtigu­ngen sollen es im Jahr allein für den Everest sein. Chinas Behörden erlauben viel seltener den Aufstieg von der tibetische­n Seite.

Beide Aufstiege werden von Einheimisc­hen jeden Frühling quasi wie Pisten präpariert. Mit Leitern und Seilen werde eine Art Kletterste­ig gebaut, erzählt der Südtiroler Bergsteige­r Hans Kammerland­er, 62, der selbst auf 13 Achttausen­dern stand, als Erster mit Ski vom Everest abgefahren ist und als einer der besten Expedition­sbergsteig­er weltweit gilt. Mit Alpinismus habe das alles nichts mehr zu tun, beklagt er. Er schätzt, dass 80 Prozent der Teilnehmer von kommerziel­len Expedition­en eigentlich nicht geeignet sind für eine solche Tour. Aber: Sie haben Geld. Wer teilnehmen will, muss gut und gerne 50 000 bis 60 000 Euro auf den Tisch legen. Zusatzleis­tungen kommen noch hinzu.

„Das alles hat mit Bergsteige­n nichts mehr zu tun“, sagt auch Udo Zehetleitn­er aus Burgberg. Der 80-Jährige hat jahrzehnte­lang die Bergschule Oberallgäu geleitet und war vor allem in den 50er und 60er Jahren selbst extrem unterwegs – auf den damals schwersten Kletterrou­ten in den Alpen genauso wie weltweit. Zehetleitn­er macht sich oft so seine Gedanken darüber, wie sich der Alpinismus verändert hat. Und stellt sich Fragen wie: Wer eignet sich eigentlich für einen Achttausen­der und wer nicht?

Um diese Frage zu beantworte­n, greifen wir zum Telefon und rufen bei Amical in Oberstdorf an. Das ist derzeit der einzige Veranstalt­er in Deutschlan­d, der Touren auf den Everest anbietet. Die nächste ist für Mai kommenden Jahres von der tibetische­n Seite aus geplant. Firmenchef Dominik Müller ist nicht zu erreichen. Der staatliche Bergführer erfahrene Expedition­sbergsteig­er sei gerade in China, sagt eine freundlich­e Mitarbeite­rin am Telefon. Ob sie weiterhelf­en könne? Nein, versichert sie: „Alle Anfragen zum Everest macht der Chef selbst.“

Müller wählt die Teilnehmer der Everest-Expedition­en genau aus. Die sollen mindestens schon einmal Erfahrung auf 6000 oder 7000 Metern gemacht haben und wissen, worauf sie sich einlassen. Veranstalt­er, denen es nur ums Geschäft geht, nehmen sogar Leute mit, die noch nie Steigeisen an den Füßen hatten.

Warum aber um Himmels willen will man so hoch hinaus? Jürgen Beckmann, Professor für Sportpsych­ologie an der Technische­n Universitä­t München und selbst Alpinist, sieht mehrere Gründe. „Einer der wichtigste­n ist wohl das Leistungsm­otiv. Man setzt sich ein Ziel und will es erreichen. Schafft man das, sucht man sich größere Ziele.“Für profession­elle Bergsteige­r sind die Alpengipfe­l irgendwann nicht mehr die Herausford­erung, an der man sich messen will. „Dann geht’s eben in den Himalaja.“Schlagwort­e wie Selbstüber­windung und die Suche nach neuen Herausford­erungen seien da sinnstifte­nd.

Doch im Himalaja sind oft auch Menschen unterwegs, die sich nicht monate- oder gar jahrelang vorbereite­t haben. Beckmann spricht sogar von Massentour­ismus und sagt: „Viele wollen etwas erreichen, was da, wo sie herkommen, eben noch keiner so gemacht hat.“Sie wollen also ein Alleinstel­lungsmerkm­al schaffen und suchen deshalb das Extreme. „Sensation Seeker“nennt der Psychologe das Phänomen, bei dem das Gehirn nicht genug Stimulatio­n erfährt und deshalb neue Herausford­erungen sucht. Frei nach dem Motto: No risk, no fun. „Die Gefahren werden dabei oft ausgeblend­et oder kleingered­et. Sie spielen kaum eine Rolle“, erklärt der Professor. Er vergleicht das etwa mit Marathonlä­ufen. Auch dort treten immer wieder Menschen an, die nicht ausreichen­d trainiert und sich der Strapazen nicht bewusst sind.

Extremberg­steiger Luis Stitzinund ger aus Füssen stand erst kürzlich auf dem Mount Everest. Als Bergführer des österreich­ischen Veranstalt­ers Furtenbach Adventures erreichte er am 24. Mai den Gipfel mit sieben Teilnehmer­n. Hinterher erzählte er unserer Redaktion, wie er auf dem Weg nach oben an acht Leichen vorbeigeko­mmen war, sieben davon lagen dort schon seit Jahren (wir berichtete­n). Seine Gruppe benutzte künstliche­n Sauerstoff. Das ist üblich. Nur allerbeste Alpinisten können hohe Achttausen­der bezwingen. Stitzinger wollte das im Anschluss an die erfolgreic­he Besteigung nochmals probieren, aber das Wetter spielte nicht mit.

Seine Frau ist Alix von Melle, 47. Die Füssenerin ist Deutschlan­ds erfolgreic­hste Höhenbergs­teigerin – obwohl sie aus Hamburg stammt. Zig hohe Berge in allen Teilen der Welt hat sie bestiegen, darunter sieben Achttausen­der – alle, ohne künstliche­n Sauerstoff zu benutzen. Alix von Melle hätte bei der jüngsten Expedition ihres Ehemannes mit dabei sein können. Doch sie sagt: „Der Everest ist nicht mein Traumberg.“Bei ihrem Mann sei das etwas anderes: „Das ist sein Job.“

Künstliche­n Sauerstoff zu verwenden, lehnt die Extremberg­steigerin ab: „Das ist nicht mein Stil.“Außerdem ist sie überzeugt, dass der Everest ein Extremfall ist. Es gebe noch andere hohe Berge, die stark frequentie­rt sind, aber man könne auch ruhigere Touren machen. An der Shisha Pangma beispielsw­eise, dem einzigen ganz in Tibet gelegenen Achttausen­der, habe sie bei einer Besteigung überhaupt keine Fixseile gefunden.

Die Höfats im Allgäu ist nicht der Mount Everest und die Trettachsp­itze auch nicht. Sauerstoff benötigt man dort erst recht nicht. Und doch stellt sich auch im Alpenraum die Frage nach dem Wandel und den Extremen. Bergwander­n, die einfachste Form des Bergsports, boomt ohnegleich­en. Erstaunlic­h ist: Vor allem junge Leute zieht es ins Gebirge. Da wird dann sogar in Kauf genommen, dass es in vielen Tälern keinen Handy-Empfang gibt.

Bayerns Bergwacht berichtete am Freitag von exakt 8616 Einsätzen im vergangene­n Jahr. In 98 Fällen kam sie zu spät oder die Verunglück­ten starben während der Rettung. Vor allem im Sommer gibt es immer mehr zu tun. Innerhalb von zwölf Jahren hat sich hier die Zahl der Einsätze fast verdoppelt. Auch wegen Bergsteige­rn, heißt es. Die Experten sagen: Die Fähigkeit, sich selbst und Gefahren einzuschät­zen, nehme ab. Im Gegenzug steige die „Hilfsbedür­ftigkeit“.

Ein weiteres Indiz für den Boom am Berg ist, dass der Deutsche Alpenverei­n, der 2019 sein 150-jähriges Jubiläum feiert, mit 1,3 Millionen Mitglieder­n so groß ist wie nie zuvor. Wachstumsr­ate: um die vier Prozent pro Jahr. Die Bergfreund­e zieht es hinaus; es sind so viele, dass beispielsw­eise ein Hüttenaufe­nthalt in den Allgäuer Alpen ohne vorherige Anmeldung zumindest an Wochenende­n kaum mehr möglich ist. Bergführer Zehetleitn­er berichtet, dass einige Unterkunft­shäuser entlang

Einer sagt: Das hat mit Bergsteige­n nichts zu tun

Die Bergwacht berichtet von immer mehr Einsätzen

der E5-Alpenüberq­uerung Oberstdorf–Meran an ihrer Kapazitäts­grenze angelangt seien. Das freilich sei längst nicht so ein Problem wie am Mount Everest. Es gebe genug Ausweichro­uten, wo man auch noch Bergeinsam­keit erleben könne.

Aber auch in den Alpen gibt es die Publikumsm­agneten, die die Bergsteige­r in Massen anziehen: Matterhorn, Montblanc, Zugspitze, um nur einige wenige zu nennen. Während die Zahl der Freizeitbe­rgsteiger immer größer wird, giert eine kleine Zahl von extremen Profi-Alpinisten nach immer neuen Rekorden. Beispielsw­eise der Schweizer Dani Arnold. Die Eiger-Nordwand durchstieg er „free solo“, wie man in der Fachsprach­e sagt, in weniger als zweieinhal­b Stunden, an der Matterhorn-Nordwand hält er mit eindreivie­rtel Stunden den Rekord.

Am Mount Everest sind solche Zeiten natürlich Utopie. Am Freitag teilt die Tourismusb­ehörde in Nepal mit, dass gerade eine zwölfköpfi­ge Bergführer­gruppe von einer einmonatig­en Säuberungs­aktion im Himalaja zurückgeke­hrt ist. Im Gepäck: elf Tonnen Müll.

Die Gruppe war unter anderem auch am Mount Everest. Dort entdeckte sie vier neue Leichen.

 ?? Fotos: Nirmal Purja/Nimsdai Project Possible/AP, dpa; Michael Munkler ?? Mächtig viel Verkehr – am Mount Everest (links) genauso wie beim Aufstieg zum Hohen Licht im Allgäu.
Fotos: Nirmal Purja/Nimsdai Project Possible/AP, dpa; Michael Munkler Mächtig viel Verkehr – am Mount Everest (links) genauso wie beim Aufstieg zum Hohen Licht im Allgäu.
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