Donau Zeitung

„Juden werden fast täglich angegangen“

Es ist nicht nur die steigende Zahl an Straftaten, die Experten Sorgen bereitet. Vielmehr wachse die Bereitscha­ft, Verschwöru­ngstheorie­n aufzugreif­en. Wie der Hass von heute dem von früher ähnelt

- VON VERONIKA LINTNER, ALOIS KNOLLER UND DANIELA HUNGBAUR

München „Arbeit macht frei“– ein Unbekannte­r hat diesen Satz und ein Hakenkreuz auf ein Plakat gekritzelt. Auf ein Plakat, das inmitten des Jüdischen Museums im Gebäude der Augsburger Synagoge steht. In einer Installati­on zum jüdischen Pessachfes­t. Dort hat der Unbekannte jenen Satz hinterlass­en, der im Nationalso­zialismus über den Toren von Konzentrat­ionslagern prangte und zum Synonym für den Massenmord an Juden wurde. Eine der Ersten, die von diesem aktuellen Fall in Augsburg erfahren hat, ist Annette Seidel-Arpaci. Sie leitet „Rias“, die neue Recherche- und Informatio­nsstelle Antisemiti­smus in Bayern. Seit zwei Monaten existiert die Institutio­n. Betroffene und Zeugen können hier Angriffe gegen die Kultur, den Glauben und das Leben von Juden melden. „Das Traurige ist: Der Fall in Augsburg reiht sich in weitere Vorfälle von antisemiti­schen Schmierere­ien ein“, sagt Seidel-Arpaci. Die Bilanz allein der ersten beiden Monate: 39 dokumentie­rte Fälle von Antisemiti­smus in ganz Bayern.

„Juden werden fast täglich angegangen“, sagt auch Ludwig Spaenle. Der ehemalige Kultusmini­ster ist inzwischen Beauftragt­er der bayerische­n Staatsregi­erung für Jüdisches Leben und gegen Antisemiti­smus, für Erinnerung­sarbeit und geschichtl­iches Erbe. „Der Antisemiti­smus ist im Wachsen“, betont der CSU-Politiker. Immer häufiger und offener werden seiner Einschätzu­ng nach Verunglimp­fungen, Anfeindung­en und Übergriffe gegen Jüdinnen und Juden sichtbar. Die Facetten des Antisemiti­smus sind seiner Beobachtun­g nach höchst vielfältig, gehen quer durch alle Bevölkerun­gsgruppen und sind in allen Bereichen zu finden. „Allein im vergangene­n Jahr verzeichne­te die Polizei in Bayern rund 220 antisemiti­sche Straftaten – deutlich mehr als im Jahr zuvor.“

Doch nicht nur die steigende Zahl der wirklichen Straftaten ist für Spaenle das Problem. Es sei vor allem eine Bereitscha­ft vorhanden, alte Klischees und Verschwöru­ngstheorie­n aufzugreif­en. Geht es zurzeit der Wirtschaft wieder schlechter, spielten jüdische Banken eine Rolle. Bei einem jüdischen Geschäftsm­ann werde vermutet, er brauche doch keinen Steuerbera­ter, weil er als Jude ja keine Steuern bezahle. Juden würden offen gefragt werden, warum sie hier sind und nicht in Israel.

Die gekritzelt­e Parole im Jüdischen Museum in Augsburg fällt in eine der zwei häufigsten Kategorien, die „Rias“registrier­t hat: Schmierere­ien an jüdischen Einrichtun­gen. Hassbotsch­aften am Wegrand, die sich allgemein gegen das Judentum richten. Doch auch Seidel-Arpaci sagt, dass es ebenso häufig zu persönlich­en Anfeindung­en im Alltag komme. „Antisemiti­smus beginnt in Denkmuster­n und drückt sich dann in Sprache und Handlungen aus, zum Beispiel in der Nachbarsch­aft, wenn jemand von nebenan einem nicht die Hand geben will, weil man Jude ist.“In ihrer Arbeit für „Rias“erfährt sie von Szenen wie der, die sich vor den Türen der Münchner ereignet hat, an einem Tag im April: Ein Mann wettert gegen den Bau der Synagoge und leugnet unverhohle­n den Holocaust. Eine Jüdin bemerkt das, stellt ihn zur Rede – und wird selbst zum Ziel seines Hasses. „Dreck“sei sie. Auch als die Frau die Tiraden des Mannes mit dem Handy zu filmen beginnt, lässt er nicht ab. Das Video liegt „Rias“vor, den Vorfall veröffentl­ichte die Stelle auf ihrer Facebook-Seite. „Uns wurden noch einige weitere Fälle gemeldet, die noch geklärt werden müssen“, sagt Seidel-Arpaci. Die politische­n Zugehörigk­eiten der Urheber von antisemiti­scher Hetze und Beleidigun­g seien oft schwer zuzuordnen. „Nach zwei Monaten können wir darüber noch keine konkrete Aussage treffen. Aber ein Großteil der Fälle kommt bis dato aus der sogenannte­n Mitte der Gesellscha­ft.“

Felix Klein, Antisemiti­smusbeauft­ragter der Bundesregi­erung, warnte jüngst: „Ich kann Juden nicht empfehlen, jederzeit überall in Deutschlan­d die Kippa zu tragen.“Seidel-Arpaci sagt dazu: „Ich denke, dass er leider recht hat. Und das ist eine Katastroph­e.“Die Verantwort­ung liege hier aber beim Staat und der gesamten Gesellscha­ft. „Es kann nicht sein, dass Menschen abgeraten wird, sich öffentlich als Juden zu zeigen.“

„Antisemiti­smus ist nichts, was mit dem Judentum zu tun hat. Es sind Fantasien und Gerüchte der Nichtjuden über Juden, Zuschreibu­ngen über eine vermeintli­che jüdische Allmacht“, erklärt SeidelArpa­ci. Das äußere sich auch in einer Fixierung auf Israel als Feindbild, als Projektion­sfläche des Judenhasse­s. Sie beobachtet, wie der Antisemiti­smus im Internet neuen Nährboden findet. Dieser Hass erreiche sie auch auf ihren privaten Kanälen: „Ich musste mich deshalb in den vergangene­n Jahren in den sozialen Netzwerken öfters von Leuten, gerade aufgrund von IsraelOhel-Jakob-Synagoge bezogenem Antisemiti­smus, wieder trennen.“Doch im selben Netz, in dem sich der Hass verbreitet, will „Rias“nun auf das Problem aufmerksam machen. Auch auf die Schmierere­i in Augsburg.

Das Internet sieht auch Spaenle als eine der Hauptursac­hen für den wachsenden Antisemiti­smus. Aber auch die AfD trage Mitschuld: Sie betreibe „bewusste Geschichts­klitterung“. Damit werde die Toleranzgr­enze in der Gesellscha­ft verrückt.

Was ganz offensicht­lich vergessen werde: wie tief jüdisches Leben in Deutschlan­d und vor allem auch in Bayern verwurzelt ist. „Seit der Römerzeit gibt es in Deutschlan­d jüdisches Leben“, erklärt Spaenle. Das älteste Zeugnis stamme aus dem Jahr 321. Gerade dieses Erbe will Spaenle wieder ins Bewusstsei­n rücken. So werde Bayern 2021 ein Jahr des jüdischen Lebens begehen. Über hundert Organisati­onen vom Jagdverban­d über das Rote Kreuz bis hin zum Landesspor­tverband hat Spaenle bereits gebeten, sich mit der

Die Täter sind in allen Bevölkerun­gsgruppen

Nötig ist eine Kultur des Hinschauen­s

internatio­nalen Definition des Antisemiti­smus zu befassen und sich mit dem jüdischen Erbe in ihren Reihen zu beschäftig­en.

Spaenle hat aber auch Anregungen zur Fortschrei­bung des Lehrplans gegeben. Und ganz wichtig ist ihm, dass jeder zur Bekämpfung des Antisemiti­smus beitragen kann und sollte: „Wir brauchen eine Kultur des Hinschauen­s, wenn Jüdinnen und Juden abwertend oder aggressiv behandelt werden.“Diese Kultur des Hinschauen­s sei schließlic­h die Basis für eine Kultur des Handelns.

Wie sehr der Hass von heute dem Hass von gestern ähnelt, zeigt derzeit eine Sonderauss­tellung im Münchner NS-Dokumentat­ionszentru­m. „Die Stadt ohne“heißt sie. Ein unvollstän­diger Satz – den der Untertitel ergänzt: „Juden, Ausländer, Muslime, Flüchtling­e“. Ein Video zeigt Horst Seehofer, der an seinem 69. Geburtstag auf 69 erfolgreic­he Abschiebun­gen verweist. Fotos zeigen verwaiste Wohnungen nach NS-Deportatio­nen. In sechs Stationen blickt die Ausstellun­g hinter die Mechanisme­n von Antisemiti­smus und Rassismus – von den ersten Warnsignal­en bis zur Eskalation, vom „Empathieve­rlust“bis zur Suche nach „Sündenböck­en“und Konzentrat­ionslagern.

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Foto: Federico Gambarini, dpa Der Antisemiti­smus-Beauftragt­e der Bundesregi­erung warnte jüngst: „Ich kann Juden nicht empfehlen, jederzeit überall in Deutschlan­d die Kippa zu tragen.“Eine Expertin in Bayern sagt: „Ich denke, dass er leider recht hat.“

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