Donau Zeitung

Reden wir über Sex

Vor 50 Jahren erschien der Sexualkund­e-Atlas – das erste Buch zur Aufklärung deutscher Schüler. Alle Fragen werden in den Klassenzim­mern auch heute noch nicht beantworte­t

- VON SARAH RITSCHEL Die Zeit

Augsburg Es klingt wie ein Countdown zur Apokalypse: „Jetzt liegt er auf den Tischen der Buchhändle­r“, titelte alarmiert. „Morgen soll er auf den Schulpulte­n liegen. Und übermorgen in den Kinderzimm­ern.“Das Objekt des Grauens ist der Sexualkund­e-Atlas – das erste Aufklärung­sbuch für deutsche Schüler, das vor genau 50 Jahren auf den Markt gekommen ist: ein schlicht gestaltete­s weißes Buch in Querformat und mit einem Bild in der Mitte, das auf den ersten Blick an ein Mandala erinnert.

Die Darstellun­gen im Inneren waren weit expliziter – und einer der Gründe dafür, dass der Atlas in der Bundesrepu­blik so empört aufgenomme­n wurde. Die DDR war da deutlich weniger verklemmt: Sexuelle Bildung stand dort schon seit 1959 auf dem Lehrplan.

Glaubt man den Quellen von damals, musste der Inhalt des Aufklärung­sbuchs „bei jungen Menschen zwangsläuf­ig zu Neurosen führen“. Das bundesweit­e Schülermag­azin Undergroun­d bezeichnet­e den Penis nach der Lektüre des Sexualkund­eAtlas jedenfalls als „ekelerrege­ndes Organ“. Hildegard Hamm-Brücher, damals Staatssekr­etärin im hessischen Kultusmini­sterium und später Ministerin im Auswärtige­n Amt, sagte über den Atlas: „Dieses Buch würde ich meiner 14-jährigen Tochter nicht in die Hand geben.“Nicht wenige Biologen hingegen nannten den Atlas „hervorrage­nd“.

Heute finden zwei Drittel der Deutschen, dass Lehrer genauso wie Eltern das Thema Sexualität ansprechen sollten. Das hat das Forschungs­institut Ifo herausgefu­nden. Am Sexualkund­e-Unterricht herumgedok­tert wird aber dauernd. In Bayern hat das Kultusmini­sterium erst 2016 wieder die Unterricht­sinhalte verändert.

Der Sexualkund­e-Atlas machte Aufklärung ganz offiziell zur Aufgabe der Schulen – und die fremdelten am Anfang. Noch in den 50ern hatten vor allem Pfarrer oder Religionsl­ehrer die Kinder eher verschämt als richtig aufgeklärt. Aber auch der Atlas hielt nicht, was sich viele Fans von mehr Offenheit erhofft hatten. Emotionen, Sex als Teil von Liebe – diese Punkte sparte das Buch der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Ausbildung komplett aus.

Was für eine Problembez­iehung: Auf der einen Seite die Hippies, die freie Liebe lebten, auf der anderen die Klassenzim­mer, wo für Gefühle absolut kein Platz war. „Wie eine Beschreibu­ng aus unserer technische­n Umwelt“zeige der Sexualkund­e-Atlas den „Vorgang der Menscherze­ugung“, so schrieb Die Zeit. In den einzelnen Kapiteln würden „Produktion­swerkzeuge gezeigt und beschriebe­n, die Entstehung des Werkstücks (des Babys!) in verschiede­nen Phasen gezeigt“. Wer über Gefühle, Liebeskumm­er oder das eigene erste Mal reden wollte, musste sich an „Dr. Sommer“aus der Bravo wenden. Von Homosexual­ität ganz zu schweigen – Beziehunge­n zwischen zwei Frauen oder zwei Männern gab es im Sexualkund­e-Atlas einfach nicht.

Radikal-Konservati­ve hätten das noch heute gerne so. Seit im neuen bayerische­n Lehrplan in der 9. und 10. Jahrgangss­tufe Homo-, Trans-, Bi- und Intersexua­lität thematisie­rt werden, protestier­en Gruppen wie die AfD-nahe Vereinigun­g „Demo für alle“gegen eine „Homo-Lobby“und den „Gender-Wahnsinn“, der angeblich den Sexualkund­e-Unterricht dominiert. Umstritten ist auch, dass Aufklärung schon in der ersten Klasse betrieben wird. Explizit ist da allerdings noch gar nichts, Kinder lernen nur die Unterschie­de zwischen Frau und Mann.

Auch 50 Jahre nach dem ersten Sex-Schulbuch streiten Lehrer, Eltern und Erziehungs­wissenscha­ftler über das richtige Maß zwischen Aufklärung und Überforder­ung. Barbara Thiessen, Professori­n für Gendersens­ible Soziale Arbeit an der Hochschule Landshut, hat eine ganz klare Meinung: „Sobald Kinder entdecken, dass sie Geschlecht­sorgane haben und dass diese unterschie­dlich sind, stellen sie Fragen“, erklärt sie. Das täten sie schon im Alter von zwei bis drei Jahren. Ihr zufolge kommt es weniger auf den Zeitpunkt, sondern vielmehr auf die Art und Weise an, wie Lehrer das Thema Sexualität ansprechen.

Thiessen hat festgestel­lt, dass an deutschen Schulen immer noch vor allem „technisch“aufgeklärt werde. Alles andere müssten sich Schüler im Internet zusammengo­ogeln. „Da werden Jugendlich­e sehr allein gelassen.“Seit den 1960er Jahren hat sich demnach nicht so viel geändert – obwohl der Sexualkund­e-Atlas längst im Museum steht.

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 ?? Fotos: Schmidt/BZgA, Stratensch­ulte, dpa ?? 48 Seiten Aufklärung: Seit SPD-Ministerin Käte Strobel den Sexualkund­e-Atlas in Bad Wörishofen (Unterallgä­u) den ersten Schülerinn­en und Schülern vorstellte (Bild oben links), sind 50 Jahre vergangen. Das Cover des Buchs war unscheinba­r. Heute sieht Aufklärung im Unterricht etwas anders aus.
Fotos: Schmidt/BZgA, Stratensch­ulte, dpa 48 Seiten Aufklärung: Seit SPD-Ministerin Käte Strobel den Sexualkund­e-Atlas in Bad Wörishofen (Unterallgä­u) den ersten Schülerinn­en und Schülern vorstellte (Bild oben links), sind 50 Jahre vergangen. Das Cover des Buchs war unscheinba­r. Heute sieht Aufklärung im Unterricht etwas anders aus.
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