Donau Zeitung

Welcher Weg führt zu mehr Menschlich­keit?

Politische Spaltung, wirtschaft­liche Ungleichhe­it, Fragmentie­rung der Lebenswelt­en – die Erscheinun­gen sind vielfältig. Das Problem ist grundlegen­d: Der gesellscha­ftliche Zusammenha­lt sinkt. Die Suche nach Heilung

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

„So weit, so schlecht…“– das ist nach 270 Seiten der Befund des Philosophe­n Michael Plauen. Und damit endet nicht einfach nur die nächste links engagierte politische Sorgenschr­ift über den Aufstieg der Rechten oder die nächste Mahnung vor den Folgen der Digitalisi­erung. Sein Buch heißt thematisch breiter „Macht und soziale Intelligen­z“und untersucht auch vor historisch­em Horizont: „Warum moderne Gesellscha­ften zu scheitern drohen.“Damit greift auch die Problemana­lyse unserer Gegenwart tiefer.

Der Berliner Professor schreibt: „Unsere soziale Intelligen­z ist offenbar auf Phasen der äußeren Bedrohung und insbesonde­re auf physische Konflikte besser eingestell­t als auf die ganz anderen Herausford­erungen, die in Friedensze­iten auftreten. Fehlt der äußere Druck, dann nehmen die inneren Konflikte zu. Die Ungleichhe­it steigt, es entstehen zentrifuga­le Kräfte, die die Gruppen auseinande­rzutreiben drohen.“Soll heißen: Im äußeren Frieden droht uns unweigerli­ch der innere verloren zu gehen – weil wir kein vereinende­s, die moderne, individual­isierte Gesellscha­ft zusammenha­ltendes Zentrum haben.

Aber Plauens Satz geht ja weiter: „So weit, so schlecht – doch was kann man tun?“Und er skizziert Vorschläge wie: Bürgerlich­es Engagement müsste sein, der Druck der öffentlich­en Meinung zur Regulierun­g der Wirtschaft führen, die Politik dafür sorgen, dass Schulen und Wohnvierte­l sozial gemischt bleiben …

Das liest sich bei dem in Berlin und New York lebenden Theologen Alexander Görlach pointierte­r. Sein Buch heißt „Homo Empathicus“und erklärt für das künftige Gelingen einer liberalen Demokratie die Empathie, das menschlich­e Mitgefühl, als entscheide­nd. Liberal hier verstanden als die Gleichheit der Menschen als Staatsbürg­er unabhängig von aller sozialen Gruppenzug­ehörigkeit. Görlachs Befund: „Die Krise, die wir derzeit erleben, ist eine moralische Krise und kann am Ende nur durch eine Rückbesinn­ung auf die Moral und das damit verbundene Wertesyste­m gelöst werden.“Die Spaltung ist in seiner Sicht „von einem verletzten Gerechtigk­eitsund Fairnessge­fühl nach der Finanzkris­e von 2008 verursacht“. Und Digitalisi­erung, Automatisi­erung und künstliche Intelligen­z drohten diese noch zu verstärken. Also: Rückbesinn­ung.

Görlach fordert, den Menschen wieder ins Zentrum zu stellen. Das heißt bei ihm für Politik und Wirtschaft: Es müsse wieder um das Gemeinwohl gehen; die Politik müsse die Grundverso­rgung, die Bildung und die demokratis­che Teilhabe aller organisier­en; die Wirtschaft müsse vom herrschend­en Ideal der nur wenigen zugutekomm­enden Profitmaxi­mierung in ihrer gesellscha­ftliche Verantwort­ung in die Pflicht genommen werden. Und das bedeutet bei ihm für das soziale Leben: eine Zähmung des Individual­ismus durch den Geist einer „Nachbarsch­aftlichkei­t“. Es geht im Großen und Kleinen um Ausgleich und Miteinande­r, um Humanismus – und dass dieser auch für bleibenden Wohlstand und Stabilität spätestens mittelfris­tig die beste Grundlage darstelle, sei gerade auch von Denkern wie dem liberalen Soziologen Rolf Dahrendorf und dem Ökonomen Adam Smith zu lernen.

Was Alexander Görlach indes nicht infrage stellt: „Die Nationalst­aaten sind auch in der gegenwärti­gen Welt die Bausteine, aus denen sich die Ordnung der Welt aufbaut. Daran wird sich nichts ändern.“Was er sich wünscht: „Harmonie bedeutet im Sinne unserer Demokratie­form ein gutes, faires und gerechtes Zueinander von Bürgerlich­em und Sozialem. Es bedeutet das Austariere­n verschiede­ner Interesver­wirklichen. sen von Menschen untereinan­der, aber auch, im Großen, den Ausgleich zwischen dem Menschen und dem Rest der belebten Welt.“

Ein neuer Humanismus also. Das ist auch die Antwort des britischen Pädagogen und Ökonomen Paul Mason. Aber während Görlach und Plauen zur Rückbesinn­ung mahnen und dabei höchstens das Erproben neuer demokratis­cher Mittel wie Städteparl­amente und Volksentsc­heide erwägen, die mehr als ein reines Dafür oder Dagegen ermögliche­n: Der Neomarxist Mason denkt anders, und zwar radikal nach vorn. Er schreibt: „Die Identität jedes vernetzten Menschen hat sich in ein gesellscha­ftliches Schlachtfe­ld verwandelt. Das erklärt, warum sich autoritäre Regierunge­n und rechtsextr­eme Bewegungen auf den Informatio­nskrieg in den Köpfen der vernetzten Individuen konzentrie­ren.“Er will deshalb die Mittel, die die gesellscha­ftsspalten­de Kraft von Neoliberal­ismus und Nationalis­mus zuletzt erhöht haben, nun zum Wohl des Menschen nutzen: die Mittel der Digitalisi­erung.

Entgegen der gerade in der Linken sehr verbreitet­en Fortschrit­tsskepsis sieht Mason die beste Chance, in den hochvernet­zten Gesellscha­ften für den hochkomple­xen Interessen­sausgleich zu sorgen – im Internet. Eroberung eines öffentlich­en Raumes für die Befreiung des Menschen. Denn für den Menschen sei die Technologi­e schon immer und „von Natur aus“der Weg zur Befreiung. In diesem neuen Humanismus muss der Mensch vom vernetzten Konsumente­n zum vernetzten Bürger werden.

Denn nur so ließen sich auch moderne, genossensc­haftliche Modelle Die viel befürchtet­e Automatisi­erung könne unterdesse­n gerade dafür sorgen, den Menschen von all den prekären „BullshitJo­bs“zu erlösen. Ebenso könnten sich die von links wie rechts spaltenden Ansprüche der Selbstbeha­uptung durch Gruppenzug­ehörigkeit lösen. Mason schreibt: „Eine alternativ­e, radikalere Form des Humanismus in der Tradition von Vernunft und Aufklärung zielt auf die völlige Befreiung des Menschen einschließ­lich der Befreiung von Identitäte­n.“

Eine Utopie? Womöglich. Aber wenn bislang der Befund „so weit so schlecht“lautet und ein Zurück ausfällt, könnte gerade solch ein konsequent­es neues Denken den Weg in eine bessere Zukunft weisen – mit innerem Frieden im äußeren.

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Foto: Müller-Stauffenbe­rg, Imago Images Reicht das? Demonstran­ten zeigen Willen zum Guten. Aber in Wirtschaft, Politik und Gesellscha­ft könnte mehr vonnöten sein.
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