Donau Zeitung

Und alle singen mit

Während Chöre Probleme haben, Mitglieder zu finden, boomt das „Rudelsinge­n“. Was ist da los? Besuch bei einem Mitmach-Konzert, das es in immer mehr Städten gibt / Von Angela Stoll

- LEA THIES MICHAEL SCHREINER

Die Bühne ist in geheimnisv­oll blauviolet­tes Licht getaucht. Für einige Momente wird es still, bis die ersten Töne erklingen. Dann erwacht der Saal zum Leben. „Music was my first love“, setzt Vorsänger Uli Wurschy aus voller Kehle zu singen an. „And it will be my last“, fällt das Publikum dankbar mit ein, erhebt sich und fängt an, lautstark im Takt zu klatschen. Und gleich folgt der nächste Hit, Abbas „Gimme! Gimme! Gimme! A man after midnight“. Das Klatschen wird schwungvol­ler, die ersten Hemmungen fallen, der Chor klingt kräftiger. Wie ein Popstar ruft Wurschy jovial in die Menge: „München, wie geht’s euch?“Offenkundi­g gut.

Mehrere hundert Menschen haben sich im Münchner Gasteig zum „Rudelsinge­n“versammelt. Unter diesem Namen, einer geschützte­n Marke, finden seit 2011 in einigen deutschen Städten Mitsing-Konzerte statt, irgendwo zwischen MassenKara­oke und alkoholfre­ier WiesnGaudi. Das Publikum singt, klatscht und schunkelt, für Begleitung, Anleitung und Pausen-Späße sorgen zwei Musiker. In Süddeutsch­land ist das „Team Odenwald“unterwegs: Volker Becker an Piano und Akkordeon, Uli Wurschy an der Gitarre.

Inzwischen hat es bereits 1800 dieser Konzerte gegeben, Frequenz steigend. „Es wächst und wächst immer weiter“, sagt der Sänger und Musiker David Rauterberg aus Münster, auf den das Konzept zurückgeht. Im Herbst steht das erste Konzert im Ausland an, in den Niederland­en. Auch in Augsburg wird es im Oktober erstmals ein Rudelsinge­n geben. „Wir sind in allen Bundesländ­ern bis auf das Saarland aktiv.“Geleitet werden die Konzerte von Musiker-Teams: „Derzeit sind es zehn, das elfte ist am Start.“

KDer Name lehnt sich an den Ausdruck „Rudelgucke­n“an, der sich nach der Fußball-WM 2006 als Synonym für „Public Viewing“eingebürge­rt hat. „Das Wort Rudel steht für das Lockere dieser Veranstalt­ungen“, sagt Rauterberg. Deshalb findet er den Namen prima. Die Konzerte laufen stets nach dem gleichen Prinzip ab: Angestimmt wird ein Potpourri bekannter Hits der letzten Jahrzehnte, die Hälfte davon ist deutsch. Die Texte werden per Beamer an die Wand projiziert. „Ob das München oder Hamburg ist, spielt keine große Rolle. Nur in den neuen Bundesländ­ern unterschei­det sich das Programm, weil man dort ein etwas anderes Liedgut hat“, berichtet Rauterberg.

Aber woher kommt der Erfolg? „Es ist ein Grundbedür­fnis, miteinande­r zu singen“, sagt der Musiker. „Ich habe den Eindruck: Jeder Zweite singt gern. Aber die Gelegenhei­ten dazu fehlen.“Was sagen die Konzertgäs­te? Da ist etwa Sieglinde, eine alte Dame, zum ersten Mal dabei. Sie zeigt sich beeindruck­t und sagt: „Wann kommt man sonst mal dazu?“Ein paar Lieder zu Weihnachte­n, gelegentli­ch ein dürres Geburtstag­sständchen und vielleicht ein bisschen Summen unter der Dusche: Viel mehr ergibt sich bei modernen Städtern meist nicht.

Warum dann nicht in einen Chor eintreten? Konzertbes­ucherin Meryem, 51, hat eine Zeit lang bei einem mitgemacht, ist inzwischen aber ausgetrete­n: „Diese ganzen Verpflicht­ungen sind irgendwie stressig.“Blieben noch Gottesdien­ste, um sich gesanglich auszutoben. Aber dort macht das Singen nicht so viel Spaß, meint der Musiker Rauterberg. „Und das Angebot an Liedern ist doch etwas eindimensi­onal.“Also: Rudelsinge­n.

ennt jeder: Fahrstuhlt­ür auf, und: Überraschu­ng! Wer drin, Fahrstuhlt­ür zu, und los. Nun beginnen Sekunden, die nicht wenige Menschen als unangenehm empfinden. Mit einigen Menschen, womöglich Fremden, auf engem Raum zu sein, man steht dichter als die übliche Armlänge Distanzzon­e. Womöglich hat man sogar jemanden im Rücken oder genau vor der Nase stehen, grrrr. Meistens herrscht Schweigen, manchmal sogar betretenes, alle starren auf die Tür und freuen sich, wenn diese wieder „aufplingt“. Die paar Sekunden mag das nicht weiter tragisch sein, doch viel angenehmer ist es doch, wenn Worte auf dem vertikalen Kurztrip dabei sind, weil: Überraschu­ng!

Ein oder zwei Worte gehören auf jeden Fall zum guten Ton. Die Lift-Etikette rät dem „Zusteiger“, freundlich zu grüßen, wenn sich die Fahrstuhlt­ür öffnet. Das kann auch ein einfacher Türöffner für einen

Beim Deutschen Chorverban­d sieht man das Format nicht als Konkurrenz: „Wir begrüßen alles, was dazu beiträgt, dem Singen etwas von seinem verstaubte­n Image zu nehmen und es wieder stärker in den Alltag zu integriere­n“, sagt NoraHenrie­tte Friedel vom DCV. „Da ist auch die Hoffnung dabei, dass jemand sagt: Das will ich regelmäßig­er und öfter machen.“Und doch einem Chor beitritt. Laut Deutschem Musikinfor­mationszen­trum ging die Zahl der Laien-Chöre in den letzten Jahren leicht zurück. „Immer öfter gibt es inzwischen aber zum Beispiel Projekt-Chöre“, so Friedel. Sie existieren meistens nur eine begrenzte Zeit, um ein bestimmtes Werk einzustudi­eren.

Zurück zum Gasteig. Dort greift Volker Becker zum Akkordeon und stimmt Peter Alexanders „Kleine Kneipe“an. Der alte Schlager? Aber das Publikum reagiert positiv, singt inbrünstig mit und bewegt sich ziemlich einmütig im Takt. Aber wer singt hier eigentlich? Es sind mehrheitli­ch Frauen, ansonsten ergibt sich ein buntes Bild. In der ersten Reihe feiert eine Horde einen Junggesell­innenabsch­ied, hinten verharren drei Senioren wie versteiner­t auf ihren Plätzen, daneben schunkelt gut gelaunt eine Gruppe Damen mittleren Alters. So unterschie­dlich sie sind: Für zwei, drei Stunden gehören alle zum „Rudel“, ganz unverbindl­ich. Auch das Gemeinscha­ftsgefühl trägt zum Erfolg bei. Gerade in Städten, sagt der Musikthera­peut Wolfgang Bossinger aus Ulm, sei die soziale Isolation eine große Herausford­erung für die Gesellscha­ft. „Veranstalt­ungen wie das Rudelsinge­n vermitteln auf einfache Art ein intensives Gemeinscha­ftserlebni­s“, sagt er. „Ähnlich ist das bei den Fangesänge­n, die im Fußballsta­dion angestimmt werden.“

Vielstimmi­g und manchmal leicht dissonant präsentier­t der Münchner Spontancho­r Udo Jürgens’ „Mit 66 Jahren“. Wenn der eine oder andere Ton daneben geht, wen stört’s? „Ich bin beim Singen sonst gschamig, wenn ich nichts getrunken habe“, gesteht Meryem. „Aber hier kennt man sich ja nicht.“Ein anderer Gast stimmt zu und erzählt: „Ich singe sonst nur im Auto, weil mich dann keiner hören und kritisiere­n kann.“

Wenn es ums Singen geht, sind die meisten Menschen ziemlich empfindlic­h. Abfällige Kommentare von Musiklehre­rn, Eltern oder Bekannten haben sich bei manchen tief eingeprägt. „Das kann ein regelrecht­es Trauma sein“, sagt der Musikthera­peut Bossinger. „Singen ist nämlich ein unmittelba­rer Ausdruck der eigenen Person. Man fühlt sich nackt mit der Stimme. Deshalb treffen negative Kommentare zentral die eigene Persönlich­keit.“Immer wieder kommt es vor, dass Menschen aufgrund beschämend­er Erfahrunge­n in der Kindheit meinen: „Ich kann nicht singen!“Diese Aussage, betont Bossinger, treffe nur in ganz seltenen Fällen zu. „Bei uns wird Musik zu sehr mit Leistungsd­enken verknüpft“, kritisiert er. Konzepte wie das Rudelsinge­n seien gerade deshalb so erfolgreic­h, weil sie sich davon abwendeten.

Es gibt weitere Formate mit ähnlichen Konzepten, die Mitsingkon­zerte „Frau Höpker bittet zum Gesang“oder der Berliner „Ich-kannnicht-singen-Chor“, bei dem sich einmal pro Monat „alle, die schon immer singen wollten, aber bisher nicht zu singen wagten“treffen. Die Initiative „Hamburg singt“, ein unverbindl­iches Chortreffe­n „für Sänger und Nichtsänge­r“.

In München schmettert der Saal inzwischen „Es gibt kein Bier auf Hawaii“. Wie beim Oktoberfes­t? Dass die Stimmung ein bisschen ans Bierzelt erinnern könnte, ärgert die Veranstalt­er nicht. „Wer im Bierzelt singt, ist oft nicht so textsicher“, wendet der Pianist Volker Becker bloß ein. „Super beim Rudelsinge­n ist, dass man die Texte genau lesen kann. Da lässt man sich nicht so berieseln.“Manchmal kommt es dadurch zu Aha-Erlebnisse­n. Einmal, erzählt Becker, kam nach einem Konzert ein alter, sehr korrekt gekleidete­r Herr schnurstra­cks auf ihn zu. „Ich hatte schon Sorge, dass er sich beschwert“, erzählt Becker. „Er sagte aber: Also der Text gerade, der war ja unglaublic­h gut! Von diesen Ärzten werde ich mir eine Schallplat­te kaufen.“

Manche kommen regelmäßig. Jens, hoch aufgeschos­sen, Mitte 50, kurzes weißes Haar, gehört zu den Stammgäste­n: „Ich singe gern und viel, wann immer ich die Chance dazu habe.“Im Job arg eingespann­t, ständig am Schreibtis­ch, hier: „Bei der Stimmung vergisst man die Anspannung. Wenn die Musik losgeht, ist der Stress weg. Da werden Glückshorm­one ausgeschüt­tet, davon zehrt man tagelang.“Dass gemeinsame­s Singen guttut, wurde in Studien nachgewies­en: die Konzentrat­ion des Stresshorm­ons Cortisol sinkt, die von Immunprote­inen steigt. Das „Kuschelhor­mon“Oxytocin wird produziert, das Verbundenh­eitsgefühl in der Gruppe wächst. „Insgesamt wird ein Glückscock­tail an Hormonen ausgeschüt­tet, der die Stimmung hebt und antidepres­siv wirkt“, fasst der Musikthera­peut Wolfgang Bossinger zusammen. Voraussetz­ung sei aber, dass kein Leistungsd­ruck ausgeübt würde. Dieser Gefahr jedenfalls ist beim Rudelsinge­n niemand ausgesetzt. Eher kann es vorkommen, dass sich jemand heiser singt.

OTermin Am Mittwoch, 23. Oktober, findet das erste Augsburger Rudelsinge­n statt. Beginn ist um 19.30 Uhr im Parktheate­r im Kurhaus Göggingen.

versteht man die mit Spannung aufgeladen­e Fahrstuhla­tmosphäre ja noch. Da fährt jeder zweite Fahrstuhl zum Schafott. Aber im Alltag? In Hochhäuser­n, Bürohäuser­n… Bergbahnka­binen, Zugabteile mit dem Aufzug zu vergleiche­n, verbietet sich. Das ist neutrales Gebiet, das ist klimatisch gedehnt, es gibt eine lange Gewöhnungs­zeit aneinander. Aber eine gemeinsame Fahrstuhlf­ahrt, ein jähes Zusteigen für drei Stockwerke: Das ist die kalte Dusche ohne Schutzschi­rm, das ist Kurz-Konfrontat­ion ohne Knautschzo­ne, hochangere­icherte Sprachlosi­gkeit. Was sagen? Wetter? Lächeln? Löcher in den Teppichbod­en schauen, in eine andere Galaxis starren, bis die Türen aufgehen? Beschäftig­t tun mit Taschentuc­h? Es gibt Menschen, für die es verdammt schwer ist, der nette Eisbrecher zu sein. Plaudert das Gegenüber galant los: umso besser. Wenn aber nicht? Es bleibt das Treppenhau­s.

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Foto: dpa
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