Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (143)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
Es geht mir nicht um die Unterhaltung“, sagte er dann mit der verdrossenen Wehleidigkeit eines Fiebernden, „hab mir auch nicht eingebildet, daß ich stumm dalieg und Ihnen zuhör, wenn Sie von was Xbeliebigem sprechen. Es handelt sich nicht um was Xbeliebiges…“„Sondern, sympathischer Mohl?“„Um das, weswegen Sie mich vorgestern hinausgeschmissen haben.“„Hinausgeschmissen ist ein hartes Wort. Wirklich, lieber Mohl, eine zu krasse Bezeichnung für eine cholerische Äußerung der Ungeduld. Wär es so schlimm gemeint gewesen, wär ich dann hier? Könnt ich dann mit gutem Gewissen an Ihrem Bett sitzen?“„Ich weiß nicht, warum Sie da sind, Professor, wahrscheinlich haben Sie doch kein so gutes Gewissen. Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie sich mit mir abgeben. Was finden Sie denn an mir? Was kann Sie an mir interessieren? Und wenn Sie was an mir finden, warum spielen Sie mit mir wie die Katze mit der Maus?“Warschauer unterdrückte ein Lächeln.
Er malmte mit dem Kiefer. „Was ich an Ihnen finde, kleiner Mohl? Ich habe nicht darüber nachgedacht, offen gestanden. Ich bin in dem Punkt zu animalisch veranlagt.“Etzel runzelte die Stirn. „Das glaub ich Ihnen nicht, Professor. Sie wissen in jedem Moment, was Sie tun und warum Sie es tun.“„Ah, Sie halten mich also für einen weitschauenden Intriganten?“„Das vielleicht nicht. Sie sind mir nur über, Sie sind mir ungeheuer über, und Sie nützen den Vorteil unanständig aus.“„Das ist frech, Mohl.“„Das ist wahr.“Warschauer machte Hm und wieder Hm und rückte an der Brille herum. „Sie regen sich unnütz auf, Mohl“, sagte er, „Sie sollen sich nicht aufregen. Haben Sie kein Fieberthermometer? Die Augen glänzen verdächtig. Nur Ruhe, nur Ruhe. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Wenn Sie das beruhigt… Ich meine die Definition, was mich an Ihrer Person fesselt. Es ist in der Tat nicht einfach. Ihr temperamentvoller Ausfall neulich, der mich zu einer energischen, ich gebe zu, einer etwas allzu energischen Maßregel zwang, hat gewisse Vermutungen bestätigt. Ich hätte mit Ihnen gespielt, Mohl? Eine kühne Verdrehung. Mir will vielmehr scheinen, Sie hätten mit mir gespielt oder wenigstens den Versuch dazu gemacht. Hand aufs Herz, wie ist es, wie war es?“
Na, da sind wir ja in mediis rebus, dachte Etzel mit einer Mischung von Bangigkeit und Erleichterung und drückte unter der Bettdecke die Hände zusammen. „Keine Spur“, antwortete er etwas befangen, „ich hab Ihnen ja gleich am Anfang gesagt, was ich will. Damit hat es doch begonnen, daß ich Sie fragte, ob Sie den Maurizius für schuldig halten. Sie sind mir aber ausgewichen. Jedesmal, wenn ich davon geredet habe, sind Sie mir ausgewichen oder haben sich über mich mokiert. Und zuletzt wieder.“Warschauer verzog skurril das Gesicht. „Was hätte mich denn veranlassen sollen, einem hergelaufenen Dreikäsehoch meine wahre Meinung aufs Butterbrot zu schmieren? Da wir die Sache nun einmal seriös behandeln, Sie sehen, ich nehme Sie ganz ernst, als ob ich einen Delegierten des Vereins für Menschenrechte vor mir hätte, jedenfalls können Sie sich nicht mehr über mich beklagen, ich sage, da wir uns amicalement über gewisse Mißverständnisse aussprechen, womit war denn Ihr Ausspruch motiviert? Mit einer rührseligen KleinbürgerErzählung, deren ungeschickte Mache einem abgebrühten, alten Burschen wie mir doch nur Mitleid einflößen konnte, wenn er sich schon nicht ärgerte. Da erröten Sie, Mohl, ist ganz in Ordnung, erröten Sie mir, das steht Ihnen ausgezeichnet, ist Ihren Jahren angemessen, aber wenn man einen Georg Warschauer hinters Licht führen will, muß man sich bedeutend mehr Mühe geben, Mohl, da muß einem was einfallen, da darf man ihm nicht mit dem ersten besten Pofel kommen, den man sich zwischen Dunkel und Siehst-michNicht ausdenkt. Verstanden?“„Sie haben recht“, flüsterte Etzel mit gesenkten Augen, „aber was hatt ich tun sollen?“„Was Sie hätten tun sollen? Dasselbe, was ich jetzt von Ihnen erwarte, daß Sie tun. Einer Sorte Menschen ist man unter allen Umständen die Wahrheit schuldig, nämlich der, von der man sie haben will. Sehen Sie das ein?“„Das seh ich ein.“„Na also. Gescheiter Junge.“
Etzel setzte mehrmals zum Sprechen an, während ihn Warschauer mit maskenhaft unbeweglichem Gesicht beobachtete. Das mechanische Klavier meckerte einen american Blue. „Ich konnt es nicht aushalten, Professor“, stieß er endlich leise hervor, gepreßt, nach Atem ringend. „Ich hab das Begnadigungsgesuch gelesen, das der alte Maurizius verfaßt hat. Ich hab mir dann alles von ihm selber erzählen lassen, bin einfach zu ihm gegangen. Er hat mir die Berichte gegeben, die Zeitungsausschnitte. Aber das war nicht mal nötig. Er hat mich über vieles einzelne aufgeklärt, aber in mir stand vom ersten Augenblick fest: Das Urteil ist falsch, das Urteil ist ein Justizmord. Das stand für mich so fest wie irgendwas, wie die Zehn Gebote oder daß der Martin Luther kein Schwindler war. Der Alte, an dem lag mir nichts, der ließ mich eigentlich kalt, eigentlich haßt ich ihn sogar mit seinem Begnadigungsgesuch.
Was heißt denn das, Begnadigung? Um Begnadigung winseln, mit Begnadigung sich zufrieden geben, wo er doch selber von der Unschuld seines Sohnes überzeugt war? Ich wollt es ihm nicht sagen, was hätt es auch nützen sollen, aber in meinen Augen war er bloß ein dummer, alter Trottel, seine Beteuerungen hätten mir nicht den geringsten Eindruck gemacht, wenn ich nicht selber bis ins Herz davon durchdrungen gewesen wäre: der Mensch ist unschuldig. Und wenn Sie mich fragen, wie ich zu der Sicherheit gelangt bin, so kann ich Ihnen nur antworten: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß es so ist und daß mich sämtliche Gerichtshöfe der Welt nicht davon abbringen können. Vielleicht begreifen Sie’s besser, wenn ich Ihnen sage, daß ich in einem Haus aufgewachsen bin, wo ein Urteil ist, was in der Kirche das Sakrament. In der Finsternis hat man manchmal Erscheinungen, nicht wahr? Ein Mensch kann unter bestimmten Verhältnissen dazu kommen, daß ihn ein Vorgang genau so inspiriert wie ein Gedanke… drück ich mich klar genug aus? das ist dann stärker als alle Überlegung und alles Wissen. Als die Inspiration bei mir geschehen war, da war kein Bleiben mehr für mich, da hieß es: dem Menschen muß Gerechtigkeit widerfahren oder ich geh zugrund. Verstehen Sie jetzt, Professor? Da haben Sie die Wahrheit.“
Er hatte zuletzt sehr langsam gesprochen und die gefalteten Hände über die Decke gehoben. Die Stirn, auf die ein paar feuchte Haare schräg hereinfielen, glich einem geschliffenen Stein. Sonderbarerweise war sein Mund zu einem halb trotzigen, halb kränklichen Lächeln verzogen. Das Gesicht hatte plötzlich den Bubenausdruck nicht mehr, während einiger Minuten lag sogar etwas leidend Reifes in den Zügen, der Blick war in stählerner Spannung auf die zwei schwarzen Brillengläser gerichtet, hinter denen sich scheinbar nichts rührte und nichts vorging. »144. Fortsetzung folgt