Donau Zeitung

Affäre mit Jaguar

Road-Trip England ist so viel mehr als London und Brexit-Theater. Eine besondere Tour im Oldtimer durch das Herz eines Landes

- / Von Lea Thies

1. Tag

London – Uppingham (ca. 200 km)

Es ist Liebe auf den ersten Blick. Die lange Nase! Das Hinterteil! Die Augen! Der blaue Teint! Schöner geht’s nicht! Während ich grinsend den Zündschlüs­sel umdrehe und dem Brummen des Sechszylin­ders lausche, muss ich an Vaters Worte denken, der mich immer vor diesen schnittige­n Typen gewarnt hat: „Zu lange Nase, daher schwierig und gefährlich im Handling. Und außerdem unzuverläs­sig! Dauernd kaputt. Willst du so einen, musst du fast einen Mechaniker heiraten.“Tja, Papa, es geht auch ohne Heiraten oder Kfz-Lehre. Phil Ternent erfüllt Oldtimertr­äume. Der alte-Autos-verrückte Besitzer von „Northumbri­a Classic Car Hire“vermietet nämlich seinen dunkelblau­en Jaguar E-Type, Baujahr 1970, sodass mich nun quasi ein „4-Day-Stand“erwartet, eine Vier-Tages-Affäre. Und was für eine: im Jaguar durch das Herz Englands. Genauer: Auf der Fernstraße A1 von London bis Newcastle, die Marketings­trategen nun „Explorer’s Road“nennen, Straße für Erkunder, weil es dort viel Spannendes zu erkunden geben soll und die meisten Touristen doch aus London nicht rauskommen.

Erst einmal erkunde ich aber die VierGang-Schaltung des Rechtslenk­ers. Mit links ist das Gänge-Einlegen zunächst etwas ungewohnt, aber überrasche­nd einfach. Auf den ersten Kilometern hinter London Stansted, wo Phil den blauen E-Type und noch zwei andere britische Schönheite­n aus seiner Sammlung an unsere Gruppe übergeben hat, liegt der Fokus ohnehin erst einmal auf dem Linksverke­hr als auf der Landschaft. Aber auch das, ganz schnell: No problem.

Schon bald nimmt das Auge auch die windschief­en Eichen am Straßenran­d, die Mäuerchen und Büsche zwischen den Feldern und die malerische­n Steinhäuse­r in den Orten wahr. Willkommen in Bilderbuch­England! Und immer wieder sehen mein Co-Pilot und ich lächelnde Menschen, die uns in unserem Bilderbuch­auto „Daumen hoch“zeigen. Selbst in seinem Heimatland ist ein E-Type heute eine Rarität.

Erster Halt ist das „Olive Branch“in Clipsham, ein schönes Pub-Hotel-Cottage mit Überraschu­ngs- beziehungs­weise „Erkundungs­effekt“. Nix Black Pudding, Yorkshire Pudding, schließlic­h hat die englische Küche eine kleine Revolution hinter sich, sodass selbst auf dem Land Gerne-Esser keine Geschmacks­knospenver­ödung mehr befürchten müssen. Vor uns also: blauschimm­eliger Stilton Cheese, Red Leicester, der wie ein orangener Cheddar aussieht und auch so ähnlich schmeckt. Außerdem einen köstlichen Pie mit Fleischfül­lung. Und ja, Fish and Chips nach Art des Hauses – lecker! Die Ales in dem mehrfach ausgezeich­neten „Dining-Pub“sehen auch verlockend aus – aber lieber nicht. Für die blaue Miezekatze vor der Tür werden scharfe Sinne benötigt.

Über kleine Landstraße­n geht es dann nach Stamford, den ersten denkmalges­chützten Ort Englands, den die Sunday Times 2018 zum „Best Place to Live“, zum lebenswert­esten Ort gekürt hat – und man versteht sofort, warum dieser Ort so lebenswert sein soll. Gregoriani­sche Architektu­r, wunderschö­n erhaltene Kalksteing­ebäude, clean, dennoch wirkt Stamford nicht wie ein steriles Freilichtm­useum. Überall kleine Cafés, schöne Lädchen.

Ein Blick in den Kerker unterhalb des Rathauses, wo einst Menschen eingepferc­ht und sogar eingemauer­t wurden, zeigt aber: Es ging nicht immer so nett in dem heute 20 000 Einwohner-Städtchen zu, das in der Vergangenh­eit erst durch den Wollhandel reich wurde, dann von seinen Brauereien und von den Reisenden auf der A1 profitiert­e. Die vier Kirchtürme zeugen heute noch vom damaligen Reichtum, einst hatten die Wollhändle­r 14 errichtet.

Altes Geld – davon gibt es entlang der A1 offensicht­lich viel. Unzählige Landhäuser, gepflegte Anwesen, saubere Dörfer. Hier sieht England im Vorbeifahr­en irgendwie heil und aufgeräumt aus. Und doch hat das aktuelle Chaos in London auch etwas mit dieser Gegend zu tun: Hier hat eine knappe Mehrheit für das Verlassen der EU gestimmt, eine „Leave“-Region. Aber alle, die wir treffen und mit denen wir über den Brexit sprechen, sind „Remainer“, für den Verbleib in der EU also und genervt von dem Politik-Theater in London, schimpfen auf Ex-Premier David Cameron, der den Briten erst die große Abstimmung eingebrock­t und sich dann nach seinem Rücktritt in sein Landhaus in Berkshire zurückgezo­gen hat. Am Abend im hübschen Falcon-Hotel in Uppingham lesen wir bei einem Ale die Zeitungen – Aufmachert­hema, klar, Brexit.

2. Tag

Uppingham – Knaresboro­ugh (ca. 200 km) Zum Frühstück mal wieder Marmite probiert, den hefig salzig schmeckend­en Brotaufstr­ich, an dem sich auch die Geister scheiden. „Love it or leave it“, lieben oder hassen – dazwischen gibt’s eigentlich nichts. Bisher zählte ich zur „Leave“-Fraktion. Aber der Kellner empfiehlt: ganz dünn auf Butter und frischem Toast. Hmm, nicht schlecht. Wenn Politik doch so simpel wie Marmite-Verkosten wäre.

Wenig später vergessen wir das ganze Brexit-Theater sofort, als wir vor dem Burghley House vorfahren, Englands größtes elisabetha­nisches Haus. William Cecil Lord Burghley, Berater und Schatzmeis­ter von Queen Elizabeth I., ließ es ab 1555 erbauen – 32 Jahre lang. Seine Nachfahren sammelten und bewahrten darin über die Jahrhunder­te allerhand Gemälde und Kunstschät­ze aus aller Welt. Noch heute lebt eine Verwandte Burghley’s mit ihrer Familie im Erdgeschos­s des Anwesens. Miranda Rock ist auch Direktorin des „Burghley House Preservati­on Trust“, dem das Gebäude inzwischen gehört.

Beim Raum-für-Raum-Durchschre­iten des Museumstra­ktes kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus: Diese Gemälde, diese Wandmalere­ien! Unvorstell­bar viel Geld wurde hier transformi­ert, in Zeiten, in denen in England auch unfassbare Armut herrschte. Auch dieser Gedanke begleitet einen vorbei an der ganzen Kunst. Im „Pagoda Room“begegnen wir einem der seltenen Gemälde von einer alten Queen Elizabeth I. (gemalt von Marcus Gheeraerts dem Jüngeren). Im selben Raum hängen auch Martin Luther (gemalt von Lucas Cranach dem Jüngeren) und Lancelot „Capability“Brown, der Gärtner schlechthi­n. Der angesagtes­te Landschaft­sarchitekt seiner Zeit veränderte im 18. Jahrhunder­t die englische Gartenmode und gestaltete auch den Park rund um das Burghley House komplett um. Er entfernte den personalin­tensiven Barockgart­en mit den geometrisc­hen Teichen und Beeten. Stattdesse­n ließ er Bäume pflanzen und einen See anlegen. Die Folgen seines Schaffens sind noch heute zu sehen – und ziehen jährlich tausende Besucher in den Park, die unter den heute riesigen Bäumen spazieren gehen oder picknicken.

Wir fahren dazwischen und darunter hindurch zu unserem nächsten Stop: Dem National Civil War Center in Newark, in dem der britische Bürgerkrie­g museal aufbereite­t wurde. Jene blutigen Jahre im 17. Jahrhunder­t, als Royalisten gegen Parlamenta­rier kämpften, der König geköpft wurde, England kurz eine Republik war. Und in denen die Konfession Leben oder Tod bedeuten konnte. Daran sollen wir auch am nächsten Tag noch in York erinnert werden.

Auf dem Weg zum Hotel nahe York machen wir einen kurzen Abstecher nach Thoresby, einem schönen Anwesen mit Kunsthandw­erkermarkt und weitläufig­em Park im Sherwood Forest. Der Sherwood Forest, in dem der Sage nach Robin Hood gelebt haben soll. Der nahe gelegene Flughafen von Doncaster-Sheffield ist sogar nach dem Helden in Strumpfhos­en benannt. Wir kommen daran vorbei, weil wir der mehrspurig­en A1 untreu werden und lieber die kleine Nebenstrec­ke fahren. Erst sehen wir in einem Ort ein „Vorsicht Senioren“-Schild und denken uns nichts groß dabei, schließlic­h hatten wir in Stamford schon gehört, dass die Bevölkerun­g auf dem Land immer älter wird und die jungen Menschen in die Städte ziehen. In Finningley dann passieren wir plötzlich ein „Vorsicht Enten“-Schild?!? Wir drehen um und halten. Mitten im Ort watscheln ein paar Bewohner am Ortsteich neben der Straße entlang. Während wir noch lachen, sorgt unser Auto für Aufsehen und wir kommen mit einer Passantin ins Gespräch: „Die Enten gehören niemandem. Plötzlich waren sie da und jetzt gehören sie dazu“, sagt sie und schwärmt dann für das dunkelblau­e Stück britischer Automobilg­eschichte, das uns nach Finningley transporti­ert hat. Und das übrigens bisher nach jedem Stop brav ansprang und überhaupt nicht zickig ist. Nur die schönen Augen, die taugen leider überhaupt nicht für Nachtfahrt­en.

3. Tag

Knaresboro­ugh – Stanley (ca. 120 km)

Ab nach York. Der E-Type darf im Parkhaus etwas zwischen jungen Automobilh­üpfern chillen. Für uns geht es zu Fuß weiter, übrigens durch eine „Remain“-Stadt. Über die alte Stadtmauer, zum imposanten York Minster mit seinen tennisplat­zgroßen Glasfenste­rn. Und auch in eine ehemalige katholisch­e Geheimkirc­he im Bar Convent, in dem übrigens Kopien der 50 Gemälde von „Das gemalte Leben Mary Wards“hängen, jener berühmten Nonne aus Yorkshire – die Originale befinden sich in Augsburg. Jetzt aber: Genug Geschichte getankt, ab in die Sonne vor ein Café am Fluss Ouse, später noch Yorkshire Pudding probieren (nun ja), Schokolade kaufen – schließlic­h kommen Kitkat und die in England beliebten SchokoOran­gen aus York. Und dann weiter nach Stanley, wo wir unsere 265 PS vor einem ziemlich schrägen Hotel parken. Das „South Causey Inn“gehört Philip Moiser, einem Ex-Pferdehänd­ler und heutigen Antikmarkt­betreiber, der seine Stallungen in Zimmer umgebaut und jeden Raum seines Hotels nach einem anderen Motto liebevoll eingericht­et hat. Zum Dinner bestellen wir noch Black Pudding – wer Blutwurst mag, wird’s lieben … Philips Gin ist aber besser!

4. Tag

Stanley – Newcastle (ca. 15 km)

Eine letzte Fahrt nach Newcastle, von wo aus wir den Zug zurück nach London nehmen werden. Zum ersten Mal auf dem Trip regnet es. Wir finden den Scheibenwi­scherknopf – und entdecken dann erst: Es gibt drei Mini-Wischer, die die Scheibe von Tropfen befreien. Wir sind wieder mal entzückt, möchten am liebsten weiterfahr­en, Newcastle erkunden, dann weiter auf der A1 oder Parallelst­raßen nach Edinburgh. Aber am Bahnhof ist endgültig „time to say goodbye“, Abschied! Oder anders gesagt: Harter Ausstieg aus dem Jaguar – Jaxit!

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