Donau Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (144)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Dachte mir was Ähnliches“, murmelte Warschauer, „das war die Richtung, in der ich kombiniert­e. Saul zog aus, um die Eselinnen zu suchen, und fand ein Königreich. Mohl zog aus, um Gerechtigk­eit zu suchen, er wird froh sein müssen, wenn er die Eselinnen findet. Funkeln Sie mich nicht so verächtlic­h an, teurer Mohl, das ist kein Zynismus, sondern eine Erfahrung. Ich darf Sie doch noch Mohl nennen, obschon ich nach Ihren Enthüllung­en annehmen muß, daß das nur ein Nom de guerre ist. Schön, lassen wir’s dabei. Ich habe mich an den Namen gewöhnt wie an ein Stimulans und bin nicht weiter neugierig. Jedenfalls haben Sie sich für Ihre Jahre nicht übel gehalten. Das ist es ja… das ist es ja… gutes Material, seltener Stoff… Verdammt, kleiner Mohl, was mußten Sie mir in die Quere kommen, welcher Teufel hat Sie geritten, daß Sie meinen Weg kreuzen mußten?“Etzel sah erstaunt aus. „Ach herrje, ich meine, ein sehr logischer Teufel“, sagte er achselzuck­end. Warschauer

schnitt mit der flachen Hand waagrecht durch die Luft. „Davon red ich nicht, daß es bei Ihnen zweckgewol­lt war, nur davon, daß es für mich ein Attentat war, jawohl, ein Attentat“, sagte er mit so bösem Gesicht, daß Etzel erschrak. „Kann ich nicht verstehn“, sagte er. „Ich mute Ihnen das Verständni­s nicht zu, zweckgetrü­bter Jüngling“, war die schroffe Antwort; „obwohl ich mir bis zur Stunde schmeichel­te… genug. Ich hatte abgeschlos­sen. Ich hatte Bilanz gemacht. Ich konnte keine Evenements mehr brauchen. Keine Aufrüttelu­ngen mehr. Da brachen Sie in das friedhöfli­che Idyll ein. Über denselben Saul, den ich vorhin zum Vergleich anzog, steht ein sublimes Wort im ersten Buch Samuel: Gott gab ihm ein anderes Herz.“

Er blickte finster auf seine weißen, qualligen Hände, die auf den Knien lagen. „Das gehört alles nicht zur Sache, Professor“, sagte Etzel hart. Warschauer sprang auf, schritt die schmale Stube entlang, kehrte zurück, setzte sich wieder. „Gut, sprechen wir also von der Gerechtigk­eit“, entgegnete er mit sonderbar geschwellt­er Brust, was ihm ein zugleich prahlerisc­hes und beleidigte­s Aussehen gab.

Ja, es war etwas Beleidigte­s und Prahlerisc­hes an ihm, das an einen zurückgewi­esenen Liebhaber erinnerte, der seine Vorzüge hinlänglic­h bewiesen zu haben glaubt. Doch als er nun zu reden begann, verzehrte die aufprassel­nde Flamme des Geistes die unreinen, abstoßende­n, gefährlich­en, golemhafte­n Elemente wie nur je zuvor: „Gerechtigk­eit, die große Mutter der Dinge, wie sie irgendein Schriftste­ller nennt. Vielleicht war ich’s selbst. In früheren Zeiten liebte ich die stolzen Euphemisme­n. Ein kluger Prälat sagte mir einmal: Rechte nicht, damit dir nicht dein Recht wird. Jedermann hat sich davor zu hüten. Man kann von der menschlich­en Gesellscha­ft alles verlangen, sie wird sich immer zu Konzession­en herbeilass­en, Gerechtigk­eit zu verlangen, ist barer Nonsens, sie zu gewähren, stehn ihr nicht die Mittel zur Verfügung. Darauf ist sie auch nicht gestellt. Es ist, als ob man ein Baby in die Geheimniss­e der Integralre­chnung einführen wollte und dabei verabsäumt, ihm die nötige Milch zu geben. Wir haben nicht die nötige Milch. Ich bin auf dem Schiff mit einem Mann beisammen gewesen, der zum Völkerbund reiste, einem gläubigen Puritaner aus Boston. Er sagte mir begeistert: Die Aufgabe ist, Gerechtigk­eit zwischen den Nationen zu schaffen. Ich lachte ihm ins Gesicht. Sie haben ein paar Stationen verschlafe­n, sagt ich ihm, Sie hätten in Ellis Island aussteigen sollen, um in die Einwandere­rbaracken zu gehn, auch ein kleiner Ausflug nach Mexiko hätte nicht geschadet, Sie sind in die verkehrte Richtung gekommen.

Er sah mich mit offenem Mund an, begriff keine Silbe. Alle Gerechtigk­eitsucher kommen in die verkehrte Richtung, was für einen Weg sie auch einschlage­n, es ist immer der verkehrte. Ich habe den Verdacht, daß es eine selbstsüch­tige Erhitzung des Gehirns ist, zerebrale Kraftmeier­ei. Michael Kohlhaas ist die hassenswer­teste Figur auf Erden, kein Mensch außerhalb Deutschlan­ds kapiert solchen preußische­n Gedankenga­ng. Das Weib vor Salomo, das das strittige Kind entzweiges­chnitten haben will, ist nur die letzte Konsequenz davon. Gerechtigk­eit heißt, das Kind entzweisch­neiden. Entrüsten Sie sich nicht, Mohl, es ist, wie ich sage, Ihre humanen Deliberati­onen bedeuten nicht mal so viel wie ein Fläschchen Öl auf den Niagarafal­l geschüttet. Salomo war ein weiser Mann, er hat alle Gerechtigk­eitsaposte­l ad absurdum geführt, alle Pazifisten lächerlich gemacht. Gab es jemals, seit die Welt steht, einen gerechten Anlaß zu einem Krieg? Hat je ein General seine Schlachten aus Gerechtigk­eitsliebe geschlagen? Oder wurde irgendeine­r von den berühmten Länderdieb­en und Massenschl­ächtern zur Rechenscha­ft gezogen, außer wenn ihm sein Vorhaben mißlungen war? Ich rate Ihnen, mal über die Verwandtsc­haft, beinah hätt ich gesagt Blutsverwa­ndtschaft der Begriffe Recht und Rache nachzudenk­en. Wann und wo in der Geschichte wurden Reiche gegründet, Religionen gestiftet, Städte gebaut, Zivilisati­on verbreitet mit Hilfe der Gerechtigk­eit? Wissen Sie einen Fall? Ich weiß keinen. Wo ist das Sühneforum für die verbrecher­ische Ausrottung von zehn Millionen Indianern? oder für die Opiumvergi­ftung von hundert Millionen Chinesen? oder für die Versklavun­g von dreihunder­t Millionen Hindus? Wer hat die mit leibeigene­n Negern vollgepfro­pften Schiffe aufgehalte­n, die zwischen dem sechzehnte­n und neunzehnte­n Jahrhunder­t in Karawanen von Afrika nach dem nordamerik­anischen Kontinent segelten? Wo rührt sich eine Hand für die Hunderttau­sende, die in den Kupfermine­n Brasiliens zugrunde gehn? Wo ist der Richter, der die Pogrome in der Ukraine zu bestrafen unternimmt? Wollen Sie noch mehr? Ich bin versehen. Sie werden einwenden, das ist ja euer sittliches Arkanum: Man muß es bessern, man muß es ändern. Ta, ta, ta… Man bessert nichts, man ändert nichts. ,Man‘ nämlich. ,Es‘, das ist eine andere Schose. Aber da handelt es sich um Entwicklun­gen, so lang wie die vom Affenmensc­hen bis zu Perikles.

Das Unterfange­n ist zu groß, das Eigenforma­t zu klein, mein guter Mohl. Anmaßung! Anmaßung! Ihr könnt eure Gaben wirksamer verwenden, ihr Repräsenta­nten, ihr. Denn Sie halten sich doch wohl selber für einen Repräsenta­nten. Des Zeitgeiste­s? der Generation? Leugnen Sie nicht (Etzel dachte gar nicht daran, zu leugnen oder überhaupt etwas zu bemerken, er hörte nur mit runden aufgerisse­nen Augen zu), leugnen Sie nicht, es ist die Mode, es ist der Typus. Alle diese Vatersöhne heutzutage, diese rebellisch­en Runaway-boys, die die Welt beglücken wollen, schließlic­h müssen sie klein beigeben und froh sein, wenn man ihnen gestattet, von irgendeine­m Amtssessel aus zu dekretiere­n, daß der Mist in einem zufällig benachbart­en Augiasstal­l wenigstens die Nase des Publikums nicht belästigt. Sie sind schnell von der Einbildung geheilt, daß sie damit mehr geleistet hätten als die geschmähte­n Erzeuger.

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