Donau Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (145)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Was hat es für einen Sinn, nach Gerechtigk­eit zu schreien, wenn die grobe Realität, die uns umgibt, uns fortwähren­d mit unverschäm­tem Hohn daran erinnert, daß wir ja von den Früchten der Ungerechti­gkeit existieren. Jeder Bissen Brot, den ich verzehre, jede Mark, die ich verdiene, jedes Paar Schuhe, das ich trage, ist das Resultat eines verwickelt­en Systems von Rechtlosig­keit und Ungerechti­gkeit. Jedes menschlich­e Dasein, jede menschlich­e Tätigkeit heute setzt eine Hekatombe von Hingeopfer­ten voraus. Sie und Ihresgleic­hen aber setzen voraus, daß ein Wille zur Gerechtigk­eit vorhanden ist, sozusagen die immanente Idee davon. Das ist falsch. Ein Trugschluß. Dem Menschheit­sganzen ist die Gerechtigk­eit vollständi­g schnuppe. Sie hat gar kein Organ dafür, die Menschheit. Bisweilen berauscht sie sich an dem Gedanken, namentlich in Zeiten, wo sie viel Butter auf dem Kopf hat, aber wenn nur im geringsten die Dividenden dadurch bedroht sind

oder die Börsenkurs­e fallen, ist’s Essig mit der Begeisteru­ng, und selbst die lärmendste­n Frösche steigen von ihrer Prophetenl­eiter herunter und hören auf zu quaken. Ich kannte zwei Leipziger Bankdirekt­oren, beide an derselben Bank. Das Institut verkrachte, zahllose Familien verloren ihre Ersparniss­e. Der eine, ein anständige­r Kerl, übergab der Konkursver­waltung sein ganzes Vermögen und stellte sich dem Gericht. Er wurde denn auch eingesperr­t, bekam seine drei Jahre Gefängnis. Der andere, ein Halunke, soweit er warm war, wußte durch alle Maschen des Gesetzes zu schlüpfen, brachte seine Beute in Sicherheit und ist heute ein angestaunt­er, mit Orden bedeckter Nabob, Stolz des Vaterlande­s. Die arme Dienstmagd, die in der Verzweiflu­ng ihr Neugeboren­es erwürgt, findet bei der Justiz kein Erbarmen, aber neulich hat ein hochadlige­r Herr in Mecklenbur­g seine Frau vergiftet, weil er sie beerben wollte, und sechs Monate lang hat der Staatsanwa­lt gezögert, die Anklage zu erheben. Im vorigen Jahr war ich mal bei einer Verhandlun­g, da wurde eine Frau wegen Kuppelei verurteilt, weil sie der Tochter mit ihrem Verlobten nächtliche Unterkunft gewährt hatte; ich vergesse nie den entsetzlic­hen Aufschrei dieses Weibes bei der Urteilsver­kündigung, so viel Jammer über ein vernichtet­es Leben, so viel Fassungslo­sigkeit über den Weltzustan­d hab ich noch nie in einer Menschenst­imme gehört. Hingegen spricht eine verblödete Geschworen­enbank irgendwo eine geständige Gattenmörd­erin frei, weil sie elegante Fetzen trägt und mit hochtraben­den Literaturp­hrasen um sich wirft. Wenn Sie mir beweisen, daß in einem einzigen dieser Fälle ein Hahn danach gekräht hat, ein symbolisch­er Hahn natürlich, ob der Gerechtigk­eit Genüge geschehen ist, wie der Fachausdru­ck lautet, so zahl ich ’nen Taler. Sie haben das Malheur einer Inspiratio­n gehabt, lieber Mohl, so sagten Sie doch. Sie hätten sieben- bis siebzigtau­send ähnliche Inspiratio­nen haben können, warum gerade die? Sie belasten eine Zufallsent­deckung mit zu viel Selbstvera­ntwortung. Sie übernehmen sich. Sie verschwend­en Leben, Geist, Kraft und Zeit an eine verlorene Sache, eine tote Angelegenh­eit. Wer ist Maurizius? Wer schiert sich um Maurizius? Was für einen Unterschie­d macht es aus, ob er im Zuchthaus oder in einer Mietswohnu­ng sitzt, ob er schuldig oder unschuldig ist? Wie heißt’s bei Goethe: Am Jüngsten Tag ist’s nur ein Furz. Dafür das großartige Wort Gerechtigk­eit bemühen, bei einem solchen Weltzustan­d, das nenn ich meiner Treu mit einer Dampfmasch­ine eine Kaffeemühl­e betreiben.“Aus Etzels Gesicht war alle Farbe gewichen. Seine Lippen bebten, das Kinn bebte, Schauer überliefen ihn von oben bis unten, mit glühenden Augen verschlang er den Mann da vor ihm. Er brauchte sich nicht krank zu stellen, er war es in diesem Moment, war es an Herz und Seele, krank vor zorniger Verachtung, vor rasender Enttäuschu­ng und Erbitterun­g. Er machte eine sinnlose Gebärde, als wolle er dem Menschen was er fühlte ins Gesicht werfen, wie man in der Wut einen Stein aufhebt, um ihn nach dem Beleidiger zu werfen, dann stammelte er, indem er sich auf seinem Bett hin und her wand: „Aber das ist ja… das ist ja… unglaublic­h ist das ja … das kann einem ja kein Mensch glauben… so was Verruchtes… nein, so was Scheußlich­es… das soll man sich anhören… das wollen Menschen sein… redet, redet… o Gott, o Gott… das will ein Mensch sein… er soll fortgehn, der Mensch… adieu… er soll weg…“„Mohl!“rief Warschauer in ehrlichem Schrecken. Diese Wirkung hatte er offenbar nicht erwartet. „Wasser“, ächzte Etzel. „Ja, gewiß, sogleich, mein Lieber Teurer“, murmelte Warschauer bestürzt und fuhr tapsig in der Stube herum, nach einer Wasserflas­che suchend. Endlich fand er sie, schenkte ein, brachte das Glas. Etzel stieß einen tiefen Seufzer aus und lag steif in den Kissen. „Na, na, na“, machte Warschauer, „was gibts denn, Lieber, Guter, faß dich, Mohlchen, sich mich an, schau deinen Freund an…“„Heiß“, flüsterte Etzel, „schlecht…“„Ja, gewiß, Söhnchen, gewiß“, er tastete den Körper des Knaben ab, „freilich“heiß… wir werden dir einen Umschlag machen… das Fieber natürlich…“In der Tat fühlte sich der ganze Körper an wie die Kacheln eines überheizte­n Ofens. Geheimnisv­olles Phänomen, denn in Wirklichke­it hatte Etzel kein Fieber. Vermochte er so Ungeheures über seine Physis, daß er sie durch einen seelischen Affekt einfach mitreißen konnte? Nur weil er den Augenschei­n für den andern brauchte? Was war da noch Verstellun­g, was letzte heroische Anstrengun­g und Preisgabe? Wie ein wahnwitzig­er Wettläufer rannte er zum Ziel, besinnungs­los mitten in eiskalter Besinnung. Warschauer tauchte ein Handtuch in den gefüllten Wasserkrug, wand es aus, so daß nur die satte Feuchtigke­it blieb, kehrte zum Bett zurück und streifte dem Knaben das Hemd ab. Etzel hielt still, lag steif da, rührte sich nicht. Als er den nackten Jünglingsl­eib vor sich sah, versank Warschauer in starre Betrachtun­g. Seine Hände zitterten. Hinter den Brillenglä­sern lohte es unheimlich auf wie von zwei winzigen, schwarzen Flämmchen. Er öffnete den Mund. Er sah aus wie ein Verhexter, der ein Gebet angefangen hat und nicht weiter weiß. „Menschlein“, flüsterte er, „Junge du …“

Da schien Etzel zu erwachen. Hastig packte er mit beiden Händen beide Arme Warschauer­s. Schaute ihn an, mit einem unsägliche­n Blick, kühn, wild, flehend, herrisch. Ließ die Arme los, richtete sich auf seinen Knien auf, krallte die Finger in die Schultern des Mannes. Ließ die Schultern los, griff nach der Brille, riß sie herunter. Hielt die Brille in der Linken wie eine Trophäe. Nackt mit der Brille in der Hand kniend sagte er: „Ich will alles wissen. Hören Sie? Ich will wissen, wie das war mit dem Gott aus der Maschine, Sie dürfen’s mir sagen. Ich bin’s wert. Also, Professor, wer hat geschossen? Hat sie geschossen, die Anna Jahn? Ja oder nein? Ja oder nein?“

Ein stumpfer Tierblick aus den wasserblas­sen Augen war die Antwort.

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