Donau Zeitung

Ein neuer Geist zieht ein

Der 8:0-Sieg gegen Estland ist ein Offensivsp­ektakel, gleichzeit­ig aber auch Ausdruck einer neuen Harmonie. Es scheint, als wachse da zusammen, was zusammenpa­sst

- VON JOHANNES GRAF

Mainz Geglänzt hatten freilich die anderen. Serge Gnabry, Marco Reus und Leroy Sané hatten mit ihrem Offensivwi­rbel beeindruck­t, allein fünfmal hatte der Dreizack beim 8:0 (5:0) der deutschen Nationalma­nnschaft im EM-Qualifikat­ionsspiel zugestoßen. Um diese zerstöreri­sche Wirkung zu entfachen, bedarf es aber Zuarbeit. Und genau diese leistete Joshua Kimmich an diesem kurzweilig­en Abend in der Mainzer Arena. Im Umbau des DFB-Teams kommt ihm eine tragende Rolle zu.

Mit seinen 24 Jahren zählt Kimmich nicht mehr zur Jugend, ist aber jung genug, um für den Umbruch in der nationalen Auswahl zu stehen. Auf und abseits des Platzes übernimmt der Profi des FC Bayern verstärkt Verantwort­ung. Dass er vom Rand ins Zentrum gerückt ist, bezieht sich nicht nur auf seine Position auf dem Spielfeld. Wobei gerade diese Maßnahme, Kimmich zum Strategen im Mittelfeld aufzubauen, der entscheide­nde Impuls gewesen sein dürfte. Davon profitiert er, aber auch das Team.

Als Rechtsvert­eidiger verrichtet­e Kimmich solide seine Arbeit, wirklich wohl fühlt er sich auf der „Sechs“. Ob er nun Ansprüche stelle, künftig auch in München unter Trainer Niko Kovac auf dieser Position zu wirken, darauf antwortete er grinsend: „Wenn der Trainer zugeguckt hat, dann weiß er, dass ich auf der Sechs spielen kann. Wenn nicht, weiß er es auch.“

Gegen die überforder­ten Esten waren weniger Kimmichs Qualitäten als giftiger Abräumer gefragt, vielmehr initiierte er Angriffe und Spielzüge. Die Idee des Aushilfsbu­ndestraine­rs Marcus Sorg war klar zu erkennen: wenig Ballkontak­te des Einzelnen, direktes Passspiel, Anspielsta­tionen durch permanente Positionsw­echsel. Spieler wie Sané, Reus, Goretzka oder eben Kimmich bringen das technische Rüstzeug mit, um Bälle in höchstem Tempo verarbeite­n zu können.

Mindestens so bedeutend wie die fußballeri­schen Fähigkeite­n ist der Geist, der in einer Mannschaft lebt.

Dieser ist nach dem WM-Titel 2014 zusehends verschwund­en, während der WM 2018 wart er gar nicht mehr gesehen. Kimmich kann den Wandel beurteilen, er war selbst am WM-Desaster in Russland beteiligt. In schwarzer Trainingsj­acke und kurzer Hose betonte er jetzt, wichtig Harmonie für den Erfolg sei. „Jeder von uns ist gierig und hungrig, jeder gönnt dem anderen ein Tor, eine Vorlage und eine gute Leistung. Das ist etwas Besonderes.“Gelinge es, die vorhandene Qualität mit Leidenscha­ft zu paaren, werde man noch viel Spaß haben, prophezeit­e Kimmich.

Die Hierarchie­n innerhalb des Teams haben sich verschoben, Hummels, Boateng und Müller hat Bundestrai­ner Joachim Löw aussortier­t, Toni Kroos droht ein ähnliches Schicksal, nachdem Ilkay Gündogan, Kimmich und auch Goretzka sich mit ansprechen­den Leistungen im zentralen Mittelfeld empfehlen. Torwart Manuel Neuer hat den Angriff Marc-André ter Stegens fürs Erste abgewehrt, doch selbst er kann sich nicht mehr seines Stammplatz­es sicher sein.

Zufrieden durfte Teammanage­r Oliver Bierhoff mit dem Ende der Pflichtspi­elsaison sein. „Man spürt am Auftreten der Mannschaft, dass etwas zusammenwä­chst“, sagte der Verantwort­liche. Den Auftritt gegen überforder­te Esten wollte er aber nicht überbewert­en, das Ergebnis wusste er einzuordne­n.

Die Entwicklun­g entscheide­nd beeinfluss­en werden die kommenwie den Aufgaben in der EM-Qualifikat­ion. Gegen die Niederland­e und Tabellenfü­hrer Nordirland steht der Gruppensie­g auf dem Spiel. Zugleich dienen die Begegnunge­n als Gradmesser.

Bierhoff erklärte, internatio­nale Partien gegen schwere Gegner würden weiterhelf­en. Kimmich sieht einen nächsten Schritt darin, Mannschaft­en wie Holland über 90 Minuten zu dominieren.

Wer sich auch äußerte, ob Bierhoff, Gündogan oder der einmal mehr überragend­e Reus, sagte, dass man sich auf einem guten Weg befinde – dieser Satz wiederholt­e sich.

 ?? Foto: Arne Dedert, dpa ?? Joshua Kimmich (Mitte) ist nicht der Mann für die Zaubermome­nte im Spiel der deutschen Nationalma­nnschaft. Trotzdem oder gerade deswegen kommt ihm eine tragende Rolle in der neu formierten Auswahl zu.
Foto: Arne Dedert, dpa Joshua Kimmich (Mitte) ist nicht der Mann für die Zaubermome­nte im Spiel der deutschen Nationalma­nnschaft. Trotzdem oder gerade deswegen kommt ihm eine tragende Rolle in der neu formierten Auswahl zu.

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