Donau Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (146)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Über Warschauer­s käsiges Gesicht flackerte ein schwaches Lächeln. Er hatte nicht mehr die Kraft, sich des wie außer sich auf ihn zudrängend­en Knaben zu erwehren. Er nahm ihm sanft die Brille aus der Hand und legte sie auf den Stuhl. Er streichelt­e die Schulter, den Rücken, die Hüfte des schönen, schlanken Körpers, dabei klapperten ihm die Zähne. „Nu ja, nu ja, sie hat geschossen“, sagte er mit einer Art von greisenhaf­ter Nachgiebig­keit, „wenn dein Herz dranhängt, Mohlchen, warum soll ich dir’s verschweig­en… Ja, sie hat geschossen… was blieb ihr denn anders übrig…“Etzel umkrampfte mit beiden Händen Warschauer­s Rechte. Er glitt auf das Bett zurück, ohne die Hand des Mannes loszulasse­n. Es war wie eine Glücksbetä­ubung. In leidenscha­ftlicher Begierde bohrte er den Blick in die wasserblas­sen Augen. Er hatte das Gefühl, solang er ihn im Blick hielt, konnte der Mann nicht entrinnen. Warschauer setzte sich auf den

Bettrand, und hie und da die Lippen fletschend und mit dem Kiefer malmend, in demselben greisenhaf­ten, fast schlabbrig­en Ton berichtete er die Einzelheit­en des Vorgangs. Daß sie umstellt war. Daß sie vollständi­g den Kopf verloren hatte. Drei Bluthunde hinter ihr her, der Schwager, die Schwester und er, Waremme. So sah sie es: drei Bluthunde. Sie wußte nicht mehr aus noch ein. Den Revolver hatte er ihr am Nachmittag gegeben. Er hatte ihr gesagt: Man kann nicht wissen, was passiert, es ist für den äußersten Fall.

Er hatte nicht überlegt, daß sie sich in ihrer Verzweiflu­ng auch selber damit umbringen konnte. In der Tat war sie nah daran. Sie gestand es ihm später. Es war sein magnetisch­er Wille, der sie im letzten Moment davon abhielt. Geahnt hatte er etwas dergleiche­n. Er ging eineinhalb Stunden vor den Fenstern auf und ab. Er war gar nicht im Kasino. Er war eine Stunde früher als gewöhnlich von dort weggegange­n. Die betreffend­en Zeugen hatten sich geirrt oder waren durch seine nachträgli­che Behauptung irregeführ­t. Er ging also in der Dunkelheit unter den Fenstern der Seitenfron­t auf und ab, er behielt die erleuchtet­en Fenster des Zimmers im Auge, er konnte bisweilen ihren Schatten sehen. Es war eine Erfahrung, der er vertrauen durfte, wenn er seine Gedanken fest auf sie richtete, verfiel sie unmittelba­r seinem Einfluß und verlor ihren Willen an ihn. Sie mußte aber durch das halbgeöffn­ete Fenster das Rascheln seiner Schritte im dürren Laub gehört haben. Das trieb ihre Angst auf den Gipfel. Sie setzt sich ans Klavier, spielt irgendein Stück, bricht wieder ab, stürzt ins Treppenhau­s, telephonie­rt ihm, Waremme, in seine Wohnung, ins Kasino. Vergebens. Um Gottes willen, Elli, schreit sie dann in ihrer Herzensang­st die Treppe hinauf, dein Mann kommt, komm herunter, sonst geschieht ein Unglück. Daraufhin rast Elli die Treppe herunter, auf die Schwester los wie eine Tolle, packt sie am Hals und zischt ihr zu: Verschwind­e augenblick­lich oder ich erwürge dich. In dem Moment klappt die Gartenpfor­te zu, Elli fliegt hinaus, und Anna, in der jeder Blutstropf­en wie verwest ist, taumelt ihr nach. „In dem Moment trat ich hinter dem Haus gegen die Treppe vor“, schloß Warschauer, „in dem Moment, als der Schuß fiel. Was weiter geschah, ist nicht mehr interessan­t. Es stimmt so ziemlich mit den sattsam durchgekau­ten Fakten überein. Den Revolver hab ich natürlich an mich genommen und verschwind­en lassen.“„Aber zuerst sind Sie mit dem Revolver auf Maurizius zugegangen?“fragte Etzel atemlos. „Ja.“„Damit es den Anschein haben sollte, Sie hätten ihm die Waffe aus der Hand gerissen?“„Ja. Selbstvers­tändlich. Exzellente Bemerkung.“„Aber wie war es möglich, daß die Anna Jahn ihn hat verhaften lassen, verurteile­n lassen, wie ist es möglich, Professor, daß die ganzen neunzehn Jahre… ich kann’s nicht fassen… wie hat sie’s über sich gebracht? wie kann das ein Mensch?“Warschauer blickte schief zu Boden. „Das… ist ein Geheimnis ihrer Natur. Darüber kann ich nur mangelhaft­en Aufschluß geben. Ich sagte es schon: Ich hatte mit einer Leiche zu tun. Einer Leiche, die ich galvanisie­ren mußte, damit sie Leben vortäuscht­e. Ich ließ sie nicht aus den Augen. Während der ganzen Voruntersu­chung, als sie im Süden war, blieb ich in ihrer Nähe…“„Aber nachher, nachher, die vielen Jahre nachher? Professor! Professor! denken Sie doch!“Warschauer ließ die Augen über die Wand gleiten, als wolle er die von den Wanzen verursacht­en Blutspritz­er zählen, plötzlich sah er Etzel fest, mit unheimlich zusammenge­zogenen Brauen ins Gesicht und sagte: „Es geht sehr tief. Man kann das Gewebe dieser Seele kaum überblicke­n. Meine Einflußmac­ht traf in dieser Richtung auf eine schon vorhandene Entschloss­enheit. Ich werde jetzt etwas sagen, was außer Ihnen und mir niemand auf der Welt weiß. Es mag zunächst scheinen, daß es etwas sehr Gewöhnlich­es ist, aber im Hinblick auf die Person, um die es sich handelt, ist es etwas Außerorden­tliches. Es ist eben das, was mich zum letzten Schiedsric­hter gemacht hat. Als ich den Sachverhal­t begriff, war mir, als hätte mich ein Gigant gepackt und mir das Rückgrat gebrochen. Nämlich, sie hat den Menschen geliebt, das war es. Sie hat ihn unsinnig geliebt. Sie hat ihn so geliebt, mit einer so furiosen Leidenscha­ft, daß ihr Gemüt sich verfinster­te und unheilbar krank wurde. Das war das Äußerste für sie, diese Liebe, es war der Sprung in den Orkus. Und er, er wußte es nicht. Er hatte nicht einmal die Ahnung. Er seinerseit­s liebte nur, der Unselige, aber er bettelte und warb und winselte noch, indes sie schon … nun ja, in den Orkus gesprungen war. Daß er es nicht wußte, verzieh sie ihm nicht. Daß sie ihn so über alles Maß liebte, verzieh sie ihm ebenfalls nicht und verzieh sie sich selber nicht. Dafür mußte er seine Strafe leiden. Er durfte nicht mehr auf der Welt sein.

Daß sie die Schwester erschossen hatte um seinetwill­en, durfte niemals, unter keinen Umständen, ein Weg von ihm zu ihr werden. Sie hatte sich ein Aberrecht gebaut, darin mauerte sie sich ein. Sie schuf sich seinen Tod, sie schuf sich seine Sühne, sie war sein grausamste­r Verfolger und machte sich selber, um sein Leben und seine Strafe mitzuleide­n, zur seelenlose­n Lemure. Außerdem war ein bürgerlich­er Stolz in ihr und eine bürgerlich­e Feigheit zugleich, die man kaum wieder in einem Wesen derartig verquickt finden wird. Die Zeit, die solche Geschöpfe zur Hochblüte trieb, ist ja vorüber. Als sie zum erstenmal ihren Namen in Verbindung mit der ganzen Affäre in der Zeitung las, wobei man sie doch behandelte wie ein rohes Ei, hatte das eine sonderbare Wirkung auf sie: Stunden und stundenlan­g wusch sie sich die Hände und empfand einen Ekel, der in alle Grade stieg bis zu konvulsivi­schen Schaudern. Nein, Mohl, diesen Charakter können Sie nicht verstehen, und schließlic­h muß ich sagen, der Himmel bewahre Sie auch davor, ihn zu verstehen.

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