Auf Andersens Spuren
Die Stadt Odense und die ganze Insel Fünen machen die Kindheit ihres berühmtesten Sohnes nacherlebbar
Es sind ungewöhnlich große Fußstapfen, auf denen sich Dänemarks drittgrößte Stadt Odense erkunden lässt – sie messen die Schuhgröße 47, um genau zu sein. Diese aufgemalten, vermeintlichen Abdrücke markieren einen Weg entlang der bedeutenden Stationen im Werdegang von Hans Christian Andersen, der 1805 im Armenviertel der Stadt geboren wurde.
Längst hat sich dieser Teil von Odense von der Gosse zum Touristenmagneten gewandelt. Die kleinen Fachwerkhäuschen sind liebevoll restauriert, die Straßen sind aus gepflegtem Kopfsteinpflaster. Statt Bettlern und Tagelöhnern trifft man rund um das Geburtshaus des Autors heute hauptsächlich auf Besucher aus aller Welt. Insbesondere sind es Chinesen auf einer Art Pilgerschaft. Denn das Werk des Dichters Andersen, zu dem weltberühmte Märchen wie „Das kleine Mädchen mit den Schwelfelhölzchen“und „Des Kaisers neue Kleider“gehört“– nirgends wird es so geliebt wie in China. In Odense werden sogar Hochzeiten mit einem Andersen-Darsteller gebucht. Doch man würde Odense und der gesamten Insel Fünen Unrecht tun, sie mit Kitsch und Verklärung in Verbindung zu bringen – vielerorts gelingt es, die Zeit des 19. Jahrhunderts und die ereignisreiche Lebensgeschichte des Dichters erlebbar zu machen.
Sein Geburtshaus ist ein einstöckiges, mehreckiges Gebäude mit fünf Zimmern und Spitzdach, das im 19. Jahrhundert als eine Art Obdachlosenheim diente – für bis zu 19 Menschen. Hier wird spürbar, wie eng Familie Andersen vor gut 200 Jahren zusammenlebte: Alle zusammen auf acht, neun Quadratmetern, sitzend in winzigen Nischen schlafend – schwer vorstellbar für ein Paar, dessen Sohn später ungewöhnlich groß gewachsen war und Schuhe in Größe 47 trug.
Einiges an Vorstellungskraft braucht man derweil auch für das, was auf der riesigen Baustelle direkt hinter dem Geburtshaus in weniger als zwei Jahren eröffnen soll. Eine Märchen-Erlebniswelt mit neuartigem Museumskonzept ist an dieser Stelle im Entstehen – wie stolz die Odenser auf „ihren“Dichter sein müssen, wird wohl auch darin deutlich, wie sie geduldig abwarten, bis das Stadtleben nicht mehr um die tausende Quadratmeter große Baugrube im Herzen von Odense herum stattfinden muss.
Denn nur wenige Fußstapfen vom Geburtshaus entfernt befindet sich der belebte Marktplatz, an dem zu Andersens Zeiten das Theater stand, in dem er als Kind die ersten Stücke gesehen haben soll. Im Stadtkern von Odense trifft Altes auf Modernes, umgesiedelte Fachwerkhäuser stehen unweit von den historischen Backsteingebäuden eines ehemaligen Klosters – und einige hundert Meter hinterhalb des großzügigen Stadtparks hat sich das Viertel um eine stillgelegte Textilfabrik zum Künstlerquartier gemausert.
Am Marktplatz im Zentrum steht heute auch das Gebäude, in dem das Übergangsmuseum über Hans Christian Andersen bis zum Umzug in die neue Erlebniswelt Platz gefunden hat. Neben zahlreichen Fakten über Andersens Leben, seinem Werk als Schriftsteller und seiner Leidenschaft für Scherenschnitte schwingt hier in den Erzählungen über den Dichter stets selbst etwas Märchenhaftes, Unwirkliches mit. Zu außergewöhnlich ist es, dass ausgerechnet der Sohn eines armen Schuhmachers und einer Wäscherin zum berühmtesten Schriftsteller Dänemarks wurde. Nicht wenige vermuten, er könnte ein unehelicher Sohn des Königs gewesen sein, und erklären sich so, woher das Interesse für Andersen kam, der bis ins Alter Unterstützung aus wohlhabenden Familien erhielt und sogar bei ihnen wohnen durfte – obwohl er als schwieriger Charakter galt.
Zu Hause waren diese Familien in den zahlreichen Herrenhäusern und Schlössern auf der Insel Fünen, die in der dänischen Ostsee liegt und zu der auch Odense gehört – 123 Stück gibt es auch heute noch, einige von ihnen sind gleichzeitig Wohnort und Museum. Schloss Egeskov, ein 460 Jahre altes Wasserschloss, liegt etwa eine halbe Stunde Fahrzeit in Richtung Süden von Odense entfernt und gehört dem dänischen Grafen Michael Ahlefeldt-Laurvig-Bille, der auch dort lebt. Durch die schlosseigene Gärtnerei mit Geschäft geht es in den Schlossgarten, in dem Besucher von einer beinahe lebensgroßen Andersen-Statue begrüßt werden. Selbst zu Besuch war der Schriftsteller allerdings nur zweimal im Schloss – und trotz der pittoresken Kulisse soll Andersen, wie vielerorts, nur mäßig beeindruckt gewesen sein. Heute ist das Schloss mit dem weitläufigen Gelände und aufwendig angelegten Gärten ein ganzer Bauchladen für Museen und Kollektionen, der sich über 10000 Quadratmeter erstreckt. Vom Rittersaal im Schloss über eine Sammlung historischer Kleider im Nebengebäude bis hin zu dutzenden Motorrädern, seltenen Autos, altertümlichen Wohnwagen und historischen Flugzeugen in mehreren Scheunen und Stallungen finden Besucher hier eine Vielfalt dessen, was die Grafendynastie im Lauf der Jahrhunderte aufgebaut und angesammelt hat.
Eine Sammlung ganz anderer Art wurde im fünischen Dorf „Den Fynske Landsby“zusammengetragen, das in etwa zehn Minuten mit dem Auto von Odense und in 20 Minuten auf dem Rückweg von Egeskov in die Stadt zu erreichen ist. Originalgetreu hat man dort bereits in den 1930er Jahren ein Freilichtmuseum errichtet, das aus Häusern, Höfen und Mühlen des 19. Jahrhunderts besteht. Andersen darf auch hier nicht fehlen – „Ein Dorf wie zu Lebzeiten von Hans Christian Andersen“, so lockt man Besucher aus aller Welt an. Der Hinweis, dass der Dichter selbst in der Stadt aufwuchs und nicht in einem Dorf, ist für viele nicht mehr als ein kleiner Schönheitsfehler. Obwohl Touristenattraktion ist Den Fynske Landsby aber auch ein Ausflugsziel für viele Dänen – vor allem Familien mit Kindern erkunden hier die Vergangenheit ihrer Heimat.
Wie nah auf der Insel Fünen Geschichte, Erzählung und Gegenwart beieinanderliegen, zeigt sich in einem der historischen Höfe, der als einziger auch außerhalb der DorfÖffnungszeiten zu erreichen ist: Dort versteckt sich ein kulinarischer Schatz der Region. Das Restaurant Sortebro Kro serviert moderne, regionale dänische Küche auf SterneNiveau im Fachwerkhaus mit knarzendem Parkett, massivhölzernem Mobiliar und Reetdach. Ob der angeblich so kauzige und anspruchsvolle Andersen hier wohl doch beeindruckt gewesen wäre?
Heute pilgern Chinesen in das ehemalige Elendsviertel