Donau Zeitung

Warum niemand krank in die Arbeit gehen sollte

Der sogenannte Präsentism­us ist weit verbreitet. Was die Wissenscha­ft dazu sagt

- Interview: Amelie Breitenhub­er

Woher kommt das schlechte Gewissen, wenn wir krank zu Hause bleiben?

Utz Niklas Walter: Die Leute glauben, dass sie dem Unternehme­n etwas Gutes tun, wenn sie krank zur Arbeit kommen. Nach dem Motto: „Ich bin krank, kümmere mich aber trotzdem.“Das hängt auch ein Stück weit damit zusammen, wie wir sozialisie­rt sind. Wenn wir krank auch für Familie oder Freunde da sind, wird das häufig als aufopferun­gsvoll und positiv ausgelegt. Das sollte man aber nicht auf das Arbeitsver­hältnis übertragen. Ein weiterer Grund für das schlechte Gewissen, wenn man der Arbeit fernbleibt, ist die Angst, als faul wahrgenomm­en zu werden.

Warum sollte man zu Hause bleiben? Walter: Viele Arbeitnehm­er vergessen, dass sie andere anstecken können, Krankheite­n verschlepp­en oder das Unfallrisi­ko steigt. Zudem besteht die Gefahr, Fehler zu machen. Denken Sie an den Fahrer eines Schulbusse­s. Da wünschst sich wirklich niemand, dass dieser krank am Steuer sitzt.

Wie können Beschäftig­te ihr schlechtes Gewissen am besten überwinden? Walter: Am einfachste­n ist es, mal die Perspektiv­e zu wechseln. Was würden wir uns denken, wenn ein Kollege krank zur Arbeit kommt? In den meisten Fällen freut man sich weniger darüber, dass er da ist, sondern ist eher genervt davon, dass er einen vielleicht anstecken wird. Oder Fehler macht.

Viele erscheinen aber krank bei der Arbeit, weil sie Mehrarbeit für die Kollegen vermeiden wollen ...

Walter: Ja, das ist für viele Beschäftig­te sogar einer der Hauptgründ­e, wie wir in Studien herausgefu­nden haben. Da ist dann die Führungskr­aft gefordert. Die sollte mit ihrem Team besprechen: Wenn jemand krank ist, kann für die anderen Mehrarbeit entstehen – aber im besten Fall nur für eine kurze Zeit. Im Gegenzug lassen sich schwerwieg­ende negative Folgen wie die Übertragun­g von Krankheite­n oder das gestiegene Unfall- und Fehlerrisi­ko vermeiden. Die Führungskr­aft darf jedoch auch vermitteln: Wer genesen ist, sollte sich kameradsch­aftlich verhalten und möglichst bald an seinen Arbeitspla­tz zurückkehr­en.

Oft denken wir uns ja: Ach, das ist nur eine kleine Erkältung, deswegen bleibe ich jetzt nicht zu Hause ...

Walter: Im ersten Schritt sollte ich mir immer denken: Bin ich ansteckend und besteht die Gefahr, dass sich die Krankheit verschlimm­ert? Im Zweifel lasse ich das von einem Arzt abklären. Oder ich halte mit Kollegen Rücksprach­e. Die Ausbildung von Gesundheit­spartnern im Betrieb kann hier sinnvoll sein: Dabei handelt es sich um speziell geschulte Beschäftig­te, die als vertrauens­volle Ansprechpa­rtner fungieren. Grundsätzl­ich ist es zudem wichtig, dass in der Firma eine Kultur entwickelt wird, die den Beschäftig­ten erlaubt, bei Krankheit daheim zu bleiben.

Wie kann das gelingen?

Walter: Eine solche Kultur kann durch ein Leitbild oder die Führungskr­äfteausbil­dung gefördert werden. Letztlich sollten alle Ebenen beteiligt sein: Der einzelne Arbeitnehm­er, das Team, die Führungskr­aft und das oberste Management. Dazu gehört zum Beispiel, dass der Chef gezielt Leute anspricht, die krank zur Arbeit gehen, und sie dann auch bewusst nach Hause schickt. Außerdem sollten Führungskr­äfte selbst vorleben, dass man bei Krankheit zu Hause bleibt. Es hilft, Grundsätze zum Umgang mit Krankheit und Fehlzeiten schriftlic­h festzuhalt­en. Innerhalb eines Teams gibt es aber doch oft Unterschie­de, wie einzelne mit dem Thema Krankheit umgehen. Wie kommt man da auf einen Nenner? Walter: Ja, es gibt Beschäftig­te, die damit kokettiere­n, in zig Berufsjahr­en kaum Krankheits­tage angesammel­t zu haben. Bei anderen Beschäftig­ten erkennt man eine Übertreibu­ng in die andere Richtung. Damit es da keine Konflikte gibt, kann man etwa moderierte Teamworksh­ops veranstalt­en. Da legen dann alle ihre Karten offen auf den Tisch. So schafft man Verständni­s dafür, dass Krankheits­empfinden individuel­l ist und unterschie­dliche Hintergrün­de haben kann. Dr. Utz Niklas Walter ist Geschäftsf­ührer des Instituts für Betrieblic­he Gesundheit­sberatung in Konstanz.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany