Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (39)
Aus ihren stieren Augen leuchtete ein Blick, unaussprechlich, tiefsinnig, düster, unverrückt auf einen Winkel der Zelle gerichtet, den man von Außen nicht sehen konnte, ein Blick, der alle finstern Gedanken dieser verlassenen Seele an irgend einen geheimnißvollen Gegenstand zu knüpfen schien. Dies war das Geschöpf, das von seiner Wohnung den Namen Klausnerin, und von seiner Kleidung den Namen büßende Sackträgerin erhalten hatte.
Die drei Weiber blickten durch die Oeffnung. Ihre Köpfe nahmen dem Kerker seine schwache Beleuchtung vollends, ohne daß die Unglückliche darauf zu achten schien.
„Wir wollen sie nicht stören,“sagte Oudarde leise, „sie ist in ihrer Verzückung, sie betet.“
Inzwischen hatte Mahiette mit stets wachsender Angst das eingefallene Gesicht der Büßerin betrachtet; ihre Augen füllten sich mit Thränen und sie sagte halblaut für sich: „Das wäre doch sehr sonderbar!“
Sie steckte den Kopf zwischen dem äußeren Gitter der Oeffnung durch und konnte so bis in den Winkel sehen, auf den die Blicke der Unglücklichen unverändert gerichtet waren. Als sie den Kopf aus der Oeffnung zurückzog, schwamm ihr Gesicht in Thränen. „Wie nennt Ihr diese Frau?“fragte sie.
Oudarde antwortete: „Wir nennen sie Schwester Gudula.“
„Und ich,“sagte Mahiette, „ich nenne sie Paquette Chantefleurie.“
Sie legte den Finger auf den Mund und gab der verwunderten Oudarde ein Zeichen, ihren Kopf durch das Gitter zu stecken und hineinzublicken.
Oudarde sah in dem Winkel, auf welchen der düstere Blick der Klausnerin unausgesetzt gerichtet war, einen kleinen Schuh von rosenfarbenem Sammt mit Gold und Silber gestickt.
Nach ihr blickte Gervaise hinein, und nachdem alle drei die unglückliche Mutter betrachtet hatten, fingen sie bitterlich an zu weinen.
Die Klausnerin ließ sich weder durch ihre Blicke, noch durch ihre Thränen stören, sondern blieb unbeweglich. Mit gefalteten Händen, mit stummen Lippen heftete sie ihre stieren Blicke auf den kleinen Schuh, und wer die Geschichte dieses Schuhes wußte, dem mußte bei ihrem Anblicke das Herz brechen.
Die drei Frauen hatten noch kein Wort gesprochen; sie wagten nicht einmal halblaut zu reden. Dieser große, stumme Schmerz, der die ganze Welt um sich her vergaß und den innern Blick nur auf einen einzigen Gegenstand richtete, erschien ihnen als etwas Heiliges. Sie waren im Begriffe niederzuknieen und zu beten. Endlich versuchte Gervaise, welche die Neugierigste und mithin am wenigsten Gefühlvolle war, die Klausnerin zum Reden zu bringen: „Schwester! Schwester Gudula!“
Sie wiederholte diesen Ruf dreimal, jedesmal mit verstärkter Stimme. Die Klausnerin rührte sich nicht, nicht ein Wort, nicht ein Blick, nicht ein Seufzer, kein Zeichen des Lebens!
Jetzt rief Oudarde mit sanfter und einschmeichelnder Stimme: „Schwester! Schwester Sanct-Gudula!“
Gleiches Schweigen, gleiche Unbeweglichkeit.
„Ein sonderbares Weib!“sagte Gervaise. „Ich glaube, man könnte einen Mörser losbrennen, ohne daß sie es hörte.“
„Sie ist vielleicht taub,“seufzte Oudarde.
„Vielleicht blind,“sagte Gervaise.
„Vielleicht todt,“fügte Mahiette hinzu.
Wenn auch die Seele diesen unthätigen, halberstorbenen, gelähmten Körper noch nicht verlassen hatte, so hatte sie sich doch in solche Tiefen zurückgezogen, wohin die Wahrnehmungen der äußeren Organe nicht mehr gelangten.
„Wenn wir den Fladen unter der Oeffnung zurücklassen,“sagte Oudarde, „so wird ihn irgend ein Junge wegnehmen. Wie machen wir es, um sie aufzuwecken?“
Der kleine Eustach, dessen Aufmerksamkeit bis jetzt ein Hund, der an einen kleinen Wagen gespannt war, auf sich gezogen hatte, wurde jetzt plötzlich gewahr, daß die drei Frauen durch die Oeffnung im Thurme Etwas betrachteten; die Neugierde trieb ihn, er stieg auf einen Stein, richtete sich auf seinen Zehen in die Höhe, brachte sein dickes, rothes Gesicht unter die Lücke und schrie: „Mutter, laß mich auch sehen!“
Bei dieser Kinderstimme, klar, frisch, wohltönend, schauderte die Klausnerin zusammen. Sie wendete das Haupt, ihre langen, abgemagerten Hände strichen ihre Haare von der Stirne zurück, und sie heftete auf das Kind einen Blick, erstaunt, bitter, verzweifelnd. Dieser Blick war nur ein einziger Blitz.
„O mein Heiland!“schrie sie plötzlich auf und verbarg ihr Gesicht zwischen den Knieen, „zeige mir wenigstens nicht die Kinder Anderer!“
„Guten Morgen, Madame!“sagte der Knabe ernsthaft. Diese Erschütterung hatte die Klausnerin aufgeweckt und zu sich gebracht. Ein langer Schauder durchlief ihren Körper vom Kopf bis zu den Füßen. Sie klapperte mit den Zähnen, hob sich halb in die Höhe, drückte die Ellenbogen gegen die Hüften, nahm ihre nackten Füße in die Hand, um sie zu wärmen, und sagte: „Oh, wie kalt!“
„Armes Weib,“sagte Oudarde gerührt, „wollt Ihr ein wenig Feuer?“Sie schüttelte das Haupt zum Zeichen der Verneinung.
„Oder,“fuhr Oudarde fort, indem sie ihr eine Flasche darreichte, „etwas süßen Wein? der wird Euch wärmen. Trinkt!“
Die Klausnerin schüttelte abermals das Haupt, blickte sie starr an und antwortete: „Wasser.“
„Nicht doch, Schwester, das ist kein Getränk in dieser Jahreszeit. Trinkt ein wenig Wein und eßt diesen Maiskuchen, den wir für Euch gebacken haben.“Die Klausnerin schob den Fladen zurück, den ihr Mahiette darreichte, und sagte: „Schwarzes Brod.“
„Hier,“fiel Gervaise ein, indem sie ihren wollenen Mantel abnahm, „hier habt Ihr einen wärmeren Rock, als der Eurige ist.“
Sie wies ihn von sich und sagte: „Einen Sack.“
„Aber,“fuhr die gutmüthige Oudarde fort, „Ihr müßt doch auch ein wenig gewahr werden, daß gestern ein Fest war.“
„Ich habe es wahrgenommen,“sagte die Klausnerin, „denn seit zwei Tagen fehlt mir das Wasser in meinem Kruge.“
Nach einer Pause fügte sie hinzu: „Es ist Festtag, man vergißt mich. Man thut wohl daran. Warum sollte auch die Welt an mich denken, die nicht an sie denkt? Ich bin ein erloschenes Feuer, eine kalte Asche.“
Wie ermattet von so vielen Worten, ließ die Klausnerin ihr Haupt wieder auf den Schooß sinken. Die einfache und gutmüthige Oudarde, die aus ihren letzten Worten schloß, daß sie sich abermals über die Kälte beklage, antwortete: „So wollt Ihr doch ein wenig Feuer?“
„Feuer!“sagte die Büßerin mit seltsamem Ausdruck, „und wollt Ihr auch meiner armen Kleinen, die seit fünfzehn Jahren unter der Erde liegt, ein wenig Feuer machen?“