Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (49)
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg
So viel sei gewiß, daß Esmeralda sehr jung aus Ungarn nach Frankreich gekommen. Aus allen diesen Ländern habe das junge Mädchen einige Lappen ihrer Sprache, Gesänge und seltsame Ideen mitgebracht. Das Volk liebe sie wegen ihrer Schönheit, ihrer Munterkeit, ihrer Tänze und Gesänge. Sie glaube sich in der ganzen Stadt von Niemand gehaßt, als von zwei Personen, von denen sie oft mit Entsetzen spreche: von der Klausnerin im Rolandsthurm, welche die Zigeunerin jedesmal verwünsche, so oft sie an ihrem Loch vorübergehe, und von einem Priester, der ihr nie begegne, ohne Blicke auf sie zu werfen, welche ihr Furcht einflößen. Dieser letztere Umstand brachte den Archidiakonus in große Verlegenheit, ohne daß eben Peter Gringoire viel darauf achtete. Der harmlose Dichter schien bereits jene Nacht wieder vergessen zu haben, in welcher Quasimodo in Gesellschaft des Priesters Esmeralda entführen wollte.
Bei alle dem fürchtete die kleine Tänzerin nichts; sie gab sich nicht mit Wahrsagen ab und sicherte sich dadurch gegen jene Hexenprozesse, die damals so häufig waren. Peter Gringoire gewährte ihr, wenn auch nicht als Gatte, doch als Bruder seinen Schutz. Er war philosophisch genug, diese Art platonischer Ehe geduldig zu ertragen. Er hatte doch ein Obdach und Brod. Jeden Morgen zog er vom Hofe der Wunder aus, meistens mit der Aegypterin, half ihr auf den öffentlichen Plätzen die Spenden der Zuschauer einsammeln, und jeden Abend kehrte er mit ihr unter das nämliche Dach zurück; sie verriegelte sich in ihrem Kämmerlein und Meister Peter schlief den Schlaf des Gerechten. Ein sehr gemüthliches Dasein, sagte er, und ganz zu poetischen Träumereien geeignet! Im Uebrigen, wenn er sich auf sein Gewissen fragte, war unser Philosoph nicht ganz gewiß, wen er mehr liebe: Esmeralda oder ihre Ziege. Er sei ganz vernarrt in dieses niedliche, kluge, fast gelehrte Thier. Ueberhaupt seien die Kunststücke, welche die Ziege mache, höchst einfacher Art, und Esmeralda besitze ein besonderes Talent, sie darin abzurichten. So habe sie die Ziege in kurzer Zeit gelehrt, den Namen Phöbus mit beweglichen Buchstaben zu schreiben.
„Phöbus!“sagte der Priester. „Warum Phöbus?“
„Ich weiß es nicht,“antwortete der Poet. „Es ist vielleicht ein Wort, welchem sie geheime Zauberkraft zuschreibt. Sie wiederholt es oft halblaut, wenn sie sich allein glaubt.“
„Seid Ihr versichert,“fragte der Archidiakonus mit seinem durchdringenden Blicke, „daß es nur ein Wort und kein Name ist?“„Name! wessen?“
„Was weiss ich?“sagte der Priester.
„Ich denke mir die Sache so: die Zigeuner haben etwas vom Glauben der Parsen und beten die Sonne an. Daher Phöbus.“
„Das scheint mir nicht so klar, als Euch, Meister Peter.“
„Nun, mir liegt nichts daran. Mag sie ihr Phöbus murmeln, so oft sie will. Das weiß ich gewiß, daß Djali mich fast eben so liebt, als ihre Herrin.“
„Was ist das, diese Djali?“„Das ist die Ziege.“Der Archidiakonus stützte sein Kinn in die Hand und schien einen Augenblick nachzusinnen. Plötzlich wendete er sich barsch gegen den Dichter.
„Und Du schwörst mir, daß Du sie nicht berührt hast?“„Wen? die Ziege?“
„Nein, dieses Weib.“„Mein Weib? Das kann ich wohl beschwören.“
„Und Du bist oft allein mit ihr?“„Jeden Abend wohl eine Stunde.“Der Priester runzelte die Stirne und sagte: „Solus cum sola, non cogitabuntur orare Pater noster. Bei meiner armen Seele, ich könnte das Pater noster, das Ave Maria und das Credo in Deum omnipotentem hersagen, ohne daß sie mehr auf mich Acht hätte, als eine Henne auf eine Kirche.“
„Schwöre mir bei dem Bauche Deiner Mutter,“fuhr der Priester heftig fort, „daß Du dieses Geschöpf nicht mit der Spitze Deines Fingers berührt hast.“
„Ich will es auch bei dem Kopfe meines Vaters beschwören, aber erlaubt mir dagegen auch eine Frage an Euch, mein sehr verehrter Meister.“
„Rede!“
„Was geht dieses Ding Euch an?“Das bleiche Gesicht des Priesters röthete sich, wie die Wangen eines jungen Mädchens. Er schwieg einen Augenblick, dann erwiederte er in sichtbarer Verlegenheit: „Hört, Meister Peter Gringoire, Ihr seid noch nicht verdammt, so viel ich weiß. Ich nehme Antheil an Euch und will Euch wohl. Nun würde aber jede Berührung dieser höllischen Aegypterin Euch zum Vasallen des Teufels machen. Ihr wißt, daß immer der Leib die Seele verdirbt. Wehe Dir, wenn Du dieses Weib berührst!“
„Einmal,“sagte Peter Gringoire und kratzte sich hinter den Ohren, „habe ich den Versuch gemacht, es war gleich am ersten Tage; aber er ist mir schlecht bekommen.“
„Ihr habt diese Unverschämtheit begangen, Meister Peter?“fragte der Priester mit gerunzelter Stirne.
„Ein andermal,“sagte der Poet und lachte behaglich in sich hinein, „habe ich, ehe ich in’s Bett ging, durch das Schlüsselloch gesehen, und da sah ich das niedlichste Geschöpf im Hemde, das je den bloßen Fuß auf den Teppich setzte.“
„Geh zu allen Teufeln!“rief der Priester mit einem furchtbaren Blicke, stieß den Dichter an den Schultern von sich und verlor sich in den finsteren Gängen der Kirche.
XXI. Die Glocken
Seit dem Tage, wo Quasimodo auf dem Pranger gestanden hatte, glaubten die Nachbarn der Liebfrauenkirche zu bemerken, daß der Feuereifer des Glöckners für seine Glocken sehr erkaltet war. Vorher wurde zu jeder Stunde und bei jedem Anlaß, von der Frühmette bis zur Vesper, anhaltend eifrig, durch alle Tonleitern der Glocken geläutet. Die alten Thürme der Liebfrauenkirche erzitterten den ganzen Tag unter ihrem Schalle. Man fühlte ohne Unterlaß die Gegenwart eines geräuschvollen Geistes, der ihren metallenen Mund in Bewegung setzte. Jetzt schien dieser Geist verschwunden zu sein; die Kirche war stumm, die Feste und Leichenbegängnisse hatten ihr einfaches Geläute, trocken und nackt, was eben das Ritual erforderte, nicht mehr noch weniger. Von dem doppelten Geräusch, das eine Kirche mit der Orgel im Innern, der Glocke nach Außen macht, blieb nur die Orgel übrig. Man hätte glauben können, daß kein Glöckner mehr im Glockenturme sei. Gleichwohl war Quasimodo immer noch dort. Was war denn in ihm vorgegangen? Hielten ihn Scham und Verzweiflung wegen des Prangers immer noch niedergeschlagen, tönten die Peitschenhiebe des Stockmeisters noch immer in seiner Seele wieder, und hatte die Betrübniß über eine solche Behandlung jedes andere Gefühl in ihm erstickt, selbst die Liebe zu den Glocken?