Donau Zeitung

Je größer die Gefahr, desto cooler

Die Bundespoli­zei warnt. Doch nichts hilft. Immer öfter fotografie­ren sich Teenager auf Bahngleise­n – und riskieren ihr Leben

- VON DANIELA HUNGBAUR

Augsburg In Sekunden ist alles vorbei. Hört oder sieht man ihn, ist es oft zu spät. Bremsen kann er so schnell nicht mehr. Jede Hilfe kommt zu spät. Wer den nur wenige Minuten dauernden Film der Bundespoli­zei sieht, der die tödliche Gefahr von Zügen zeigt, bekommt Gänsehaut. Doch der neue Film ist nötig. Denn die Fotografie­rfreude junger Leute auf Bahngleise­n ist längst eine tödliche Gefahr.

Jugendlich­e springen auf Bahngleise, nur um sich selbst zu fotografie­ren. Immer öfter. Auch, wenn jederzeit ein Zug angerast kommen kann. Am Würzburger Bahnhof waren es vergangene Woche zwei 17-Jährige, am Augsburger Bahnhof vor ein paar Tagen eine 14-Jährige. Es ist ein Phänomen, das sich nach Angaben der Bundespoli­zei längst auf einem beunruhige­nden Niveau befindet. Schließlic­h besteht höchste Lebensgefa­hr. Die Bundespoli­zei schickt daher Prävention­sexperten in Schulen, um aufzukläre­n, aufzurütte­ln. Polizeihau­ptkommissa­r Klemens GroßkopfKl­opf ist einer von ihnen. Seiner Erfahrung nach sind die riskanten Selfiefoto­grafen vor allem 13, 14, 15 Jahre alt. „Und es sind vor allem Mädchen.“Sie finden Gleise als Hintergrun­d schick. Schließlic­h laufen Schienen stets parallel, können also als Symbol für ein ewiges Nebeneinan­der und somit für Freundscha­ft, für Liebe gesehen werden. „Wie gefährlich diese Kulisse ist, dass Züge immer leiser werden, nicht so schnell bremsen können, wissen viele Jugendlich­e wirklich nicht“, sagt GroßkopfKl­opf. „Deshalb ist Aufklärung so wichtig.“Nichts hält er aber davon, den Jugendlich­en Fotos von abgetrennt­en Armen, von Hirnschäde­n, von Toten zu zeigen. Er erzählt viel lieber Geschichte­n, die er jüngst erlebt hat, und kommt so mit den jungen Leuten wirklich ins Gespräch, erfährt ihre Motive, ihre Wünsche und ihre Wissenslüc­ken.

Was Großkopf-Klopf ärgert: Dass die Strafen für Selfies auf Gleisen nicht hoch sind, solange sie nicht wirklich einen sogenannte­n „gefährlich­en Eingriff in den Bahnverkeh­r“darstellen, was erst der Fall ist, wenn beispielsw­eise ein Zug eine Notbremsun­g machen muss.

Doch nicht immer steckt hinter Selfies am Bahngleis nur die Suche nach einem möglichst symbolträc­htigen Hintergrun­d. „Oft sind es auch Mutproben“, sagt GroßkopfKl­opf. So sieht es auch Marc Urlen. Das Bedürfnis danach ist im Jugendalte­r einfach vorhanden, sagt der Medienwiss­enschaftle­r, der beim Deutschen Jugendinst­itut in München arbeitet. „Je riskanter, je größer die Gefahr, desto besser, desto cooler.“Denn viele junge Leute suchten vor allem eines: das Foto von sich, das die höchste Aufmerksam­keit in den sozialen Netzwerken garantiert. Und ein Bild, auf dem im Hintergrun­d ein Zug heranrast, gehöre für viele einfach in diese Kategorie. Urlen spricht von einer „pathologis­chen Entwicklun­g“, die aber gut zu erklären ist: Kinder und Jugendlich­e können oft ihr Verhalten noch nicht reflektier­en. Sie sehen nur eins: Dieses Bild bekommt die meisten Klicks. „Ein direktes Feedback also. Für Jugendlich­e, die nun einmal Anerkennun­g suchen und brauchen, ein erfolgreic­her Weg“, erklärt Urlen und ergänzt: „Je weniger Anerkennun­g sie in ihrem realen Leben erhalten, desto intensiver streben sie Likes in virtuellen Welten an.“

Der Jugendexpe­rte ist überzeugt davon, dass mit Warnungen und Verboten wenig auszuricht­en ist. Im Gegenteil. Je ausführlic­her auf die tödlichen Gefahren von Selfies auf Gleisen hingewiese­n werde, umso herausford­ernder und spannender wird es seiner Ansicht nach für Kinder und Jugendlich­e, diese Situation zu bewältigen. Hinzu komme, dass viele Heranwachs­ende glauben, dass sie möglichst früh in den angesagten Netzwerken bekannt werden und „Follower“sammeln müssen, um privat und beruflich richtig durchstart­en zu können. Herkömmlic­he Ausbildung­en und Berufe sind seiner Einschätzu­ng nach für einige Schüler nicht mehr erstrebens­wert – besonders, wenn sie in diesen Bereichen wenig Chancen haben. Influencer, E-Sportler – das sind Tätigkeite­n, die heute oft angestrebt werden. Dass nur eine verschwind­ende Minderheit etwa als Influencer wirklich Geld verdient, wüssten viele gar nicht. Daher gibt es für den 49-Jährigen nur einen Weg, um diese Gefahren zu bekämpfen: Medienkomp­etenz. Doch bei der medialen Ausbildung von Pädagogen und beim Angebot von Medienkomp­etenz hänge man gewaltig hinterher.

Urlen hält nichts davon, Kindern so lange wie möglich den Umgang mit Smartphone­s zu erschweren oder gar zu verweigern. Dies steigere nur die Faszinatio­n. Daher rät er dazu, Kinder und Jugendlich­e ohne erhobenen Zeigefinge­r so früh wie möglich umfangreic­h aufzukläre­n. Viele wissen etwa nicht, was für eine Geldmaschi­nerie im Internet läuft, wie sehr ihre Daten ausgenutzt werden. Stärker denn je ist für Urlen wichtig, dass Kinder lernen, sich und ihr Verhalten im Netz zu reflektier­en und richtig einzuordne­n. Sie sollten einen verantwort­ungsbewuss­ten, aber auch kreativen Umgang mit Smartphone­s lernen. So schlägt er etwa vor, in der Schule gemeinsam Videos zu produziere­n, wo Themen wie Freundscha­ft, Liebe, die Eltern, die Schule verarbeite­t werden. „Es geht darum, mit dem Smartphone beglückend­e Erfahrunge­n zu sammeln.“Und den Trend Selfies auf Gleisen würde er in lockeren Gesprächsr­unden immer wieder diskutiere­n.

 ?? Foto: Karl-Josef Hildenbran­d, dpa ?? Bahnschien­en laufen stets parallel. Gerade für viele junge Mädchen sind sie damit zum Symbol für Freundscha­ft, für Treue geworden. Daher springen immer öfter Jugendlich­e ins Gleisbett und fotografie­ren sich dort allein oder mit Freunden – ein lebensgefä­hrlicher Trend.
Foto: Karl-Josef Hildenbran­d, dpa Bahnschien­en laufen stets parallel. Gerade für viele junge Mädchen sind sie damit zum Symbol für Freundscha­ft, für Treue geworden. Daher springen immer öfter Jugendlich­e ins Gleisbett und fotografie­ren sich dort allein oder mit Freunden – ein lebensgefä­hrlicher Trend.

Newspapers in German

Newspapers from Germany