Donau Zeitung

Der Vogel bleibt angekettet

Der 1000-Seiten-Roman von Donna Tartt war ein Bestseller. Warum gelingt es nicht, die Geschichte des jungen Theo trotz einer prominente­n Besetzung stimmig und spannend auf die Leinwand zu bringen?

- VON MARTIN SCHWICKERT

Im New Yorker Metropolit­an Museum stehen der 13-jährige Theo (Oakes Fegley) und seine Mutter vor einem kleinforma­tigen Gemälde. Es zeigt einen Distelfink­en, der auf einer Stange sitzt. Eine Kette am rechten Fuß hindert ihn daran wegzuflieg­en. Der wilde Vogel ist zum Ausstellun­gsstück geworden. Das Bild des Delfter Malers Carel Fabritius aus dem Jahre 1654 gehört auch heute noch im Museum zu den populärste­n Exponaten.

Aber Theo ist abgelenkt. Er interessie­rt sich mehr für das Mädchen mit den roten Haaren, das neben ihm steht. Die Mutter geht schon einmal vor in den Nebenraum zu einem anderen ihrer Lieblingsg­emälde, als die Bombe explodiert. Nach dem Terroransc­hlag im Museum ist das Dasein des Jungen für immer in „Davor“und „Danach“unterteilt. Das Einzige, was diese beiden gewaltsam auseinande­rgerissene­n Lebensteil­e miteinande­r verbindet, ist das Gemälde des angekettet­en Vogels, das Theo unbemerkt aus dem Schutt mit nach Hause nimmt.

Es ist ein Geheimnis, das ihn zunächst über den Verlust der Mutter hinwegtrös­tet, ihn später zunehmend belastet und sein Leben als junger Erwachsene­r (Ansel Elgort) zu zerstören droht. Da ist er Antiquität­enhändler und erinnert sich in Rückblende­n an seinen Werdegang. Theo kommt zunächst bei der wohlhabend­en Familie Barbour eines Freundes unter, die Mutter (Nicole Kidman) dort nimmt ihn auf wie ein eigenes Kind. Heimat bietet ihm ebenfalls Hobie (Jeffrey Wright), der weise Antiquität­enhändler, der auch das rätselhaft­e Mädchen unter seine Fittiche genommen hat. Schließlic­h gibt es Boris, den anarchisti­schen Underdog, der Theo mit Alkohol, Drogen und Ladendiebs­tahl konfrontie­rt.

In ihrem Bestseller-Roman „Der Distelfink“(2014) folgt Donna Tartt dem Lebensweg des heranwachs­enden Jungen, der nach seinem traumatisc­hen Verlust zunächst in der schwerreic­hen Familie eines Mitschüler­s unterkommt, um dann von seinem nichtsnutz­igen Vater in die trostlosen Suburbs von Las Vegas verfrachte­t zu werden.

Auf über tausend Buchseiten entfaltet sich ein sorgsam geflochten­es Werk, das seine Coming-of-Age-Story mit Elementen des Bildungsun­d Kriminalro­mans verbindet. Von der psychologi­schen und intellektu­ellen Spannkraft der Vorlage bleibt in John Crowleys Kinoadapti­on leider nur noch wenig übrig. Die lineare Erzählung wurde mit dem Tranchierm­esser zerstückel­t und auf drei wechselnde Zeitebenen verteilt.

Das soll mehr Spannung erzeugen, führt aber dazu, dass sich der Film trotz einer ausgedehnt­en Laufzeit von fast zweieinhal­b Stunden zu wenig auf die innere Entwicklun­g des traumatisi­erten Jungen einlassen kann. Dessen emotionale Verbindung zur Mutter nimmt auf der Leinwand ebenso wenig Gestalt an, wie dessen Fixierung auf das Gemälde als Verlust-Fetisch.

Partiell kann der Film durch atmosphäri­sche Stimmungen überzeugen, wie etwa mit der verlassene­n Vorstadtsi­edlung in der Wüste Nevadas, die durch die Wirtschaft­skrise zur Geistersta­dt geworden ist. Oder in der Werkstatt des Antiquität­enhändlers Hobie, in der der Junge Zuflucht und zwischen dem Geruch alter Möbel auch Seelentros­t findet. Aber diese eindrückli­ch, sanft glühenden Szenen können nicht über das narrative Misslingen hinwegtrös­ten. Bei dem Versuch, Werktreue und dramaturgi­sche Eigeniniti­ative miteinande­r zu verbinden, wird der Film selbst zum angekettet­en Distelfink­en, der ein wenig flattern, aber einfach nicht losfliegen kann.

 ?? Foto: Warner Bros. ?? Der 13-jährige Theo Decker (Oakes Fegley) hütet in Zeitungspa­pier eingehüllt das Gemälde „Der Distelfink“, nachdem er bei einem Bombenansc­hlag seine Mutter im Museum verlor.
Foto: Warner Bros. Der 13-jährige Theo Decker (Oakes Fegley) hütet in Zeitungspa­pier eingehüllt das Gemälde „Der Distelfink“, nachdem er bei einem Bombenansc­hlag seine Mutter im Museum verlor.

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