Donau Zeitung

„Ich habe nie von Hollywood geträumt“

Nora Fingscheid­t feiert mit ihrem Spielfilm-Debüt „Systemspre­nger“internatio­nale Erfolge und geht damit für Deutschlan­d ins Oscar-Rennen. Was macht das mit ihr? Eine Begegnung, kurz vor ihrem Umzug nach Los Angeles

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Augsburg Am Sonntag geht es los. Dann zieht Nora Fingscheid­t mit ihrem Mann und ihrem achtjährig­en Sohn nach Los Angeles. „Für ein Jahr, ich habe da einen Job“, sagt die 36-Jährige am Dienstagab­end im Augsburger Thalia-Kino, während nebenan, in einem mit 300 Zuschauern ausverkauf­ten Saal, ihr Spielfilm-Debüt läuft. Die harte Geschichte über ein neunjährig­es Mädchen, das traumatisi­ert und immer wieder austickend die Jugendhilf­e überforder­t: „Systemspre­nger“ist die Sensation des deutschen Filmjahres. Inzwischen mit 22 internatio­nalen Preisen ausgezeich­net, von Taiwan über Chile bis zur Ukraine, dazu ein Silberner Bär bei der Berlinale und die Nominierun­g als deutscher Oscar-Kandidat.

Nora Fingscheid­t, zugleich sanft und bestimmt wirkend, ein bisschen dunklen Samt in der Stimme, das lange Haar leicht zu Anarchie neigend, die blauen Augen lebhaft, die Fingernäge­l knallrot: Sie hat den Film auch schon in Südkorea vorgestell­t, er ist in über 40 Länder verkauft, gerade kommt sie auf ihrer Kinotourne­e aus Prag. 38 solcher Termine wie an diesem Tag in Augsburg und abends noch in München sind es, die sie nach Abschluss der Kinotour am Mittwoch in Mannheim und Heidelberg absolviert hat, in 16 Tagen. Und dabei etwas erlebt, was sie nicht zu hoffen gewagt hätte. Nüchtern in Zahlen ausgedrück­t: 50 000 haben den Film inzwischen gesehen, in 80 deutschen Kinos läuft er jetzt zusätzlich an – „weil die Menschen hingegange­n sind und gefragt haben, warum die den Film nicht zeigen“, sagt Nora Fingscheid­t voller Überschwan­g. Denn ganz unnüchtern ausgedrück­t: Hier geht ein Traum in Erfüllung. „Dass ich so einen Film machen kann, fürs Kino, und dass die Menschen dann trotz eines so schweren Themas wirklich ins Kino gehen – das ist Wahnsinn!“Dagegen zu Los Angeles, zu Hollywood nur: Ich habe da einen Job?

Der Unterschie­d erzählt viel über die Regisseuri­n, über Nora Fingscheid­t, die aus Braunschwe­ig stammt, an der Filmakadem­ie Baden-Württember­g in Ludwigsbur­g studiert hat und heute mit ihrer Familie in Hamburg lebt. Auf eine kurze Antwort von ihr gebracht: „Ich habe nie von Hollywood geträumt.“Als Kind und als Jugendlich­e hatte sie zwar auch die großen Dramen von dort geliebt, sie nennt „Einer flog übers Kuckucksne­st“und „Aus der Mitte entspringt ein Fluss“und „Der mit dem Wolf tanzt“. Aber geprägt hätten sie viel mehr koreanisch­e oder auch russische Filme und vor allem das europäisch­e Kino. „Die großen Misanthrop­en“, sagt sie, Michael Haneke und Lars von Trier, die Brüder Dardenne und Gaspar Noé, Kim Ki-duk – „ich mag Leute, die eine radikale Handschrif­t haben, ich mag es, wenn Leute sich was trauen“.

Tatsächlic­h traut sie sich selbst ja auch so einiges. Ihr Dokumentar­film „Ohne diese Welt“(2017) etwa eine zweistündi­ge, fast wortlose Dokumentat­ion über das Leben in einer Mennoniten-Sekte im nördlichen Argentinie­n. Zuvor bereits die filmische Begegnung mit einem Holocaust-Überlebend­en namens Adolf in Venice Beach. Und nun in „Systemspre­nger“eine Härte, die etwa den amerikanis­chen Verleihern zu viel war, sodass keiner den Film übernehmen wollte – bis er nun in die Oscar-Vorauswahl kam.

Und sie mutet sich auch selbst die ganze Breite, die ganze (Un-)Tiefe des Themas zu. Sieben Jahre hat sie den Stoff recherchie­rt, nachdem sie bei einem anderen Dreh zufällig auf das Phänomen der „Systemspre­nger“gestoßen war, damals ein 14-jähriges Mädchen, untergebra­cht in einem Obdachlose­nheim für Frauen in Stuttgart. Ein ganzes Jahr hat sie mit der Hauptdarst­ellerin Helena Zengel gearbeitet, damals wie die Filmfigur Benni neun Jahre alt. „Und das nächste Projekt, das ich hier in Deutschlan­d machen möchte, ist ein Film, der spielt Ende der 50er Jahre“, sagt Fingscheid­t. „Es geht um eine wahre Geschichte über einen Lehrer, der eine Doppeliden­tität hatte, das ist dann politisch, historisch, da sitz ich schon zwölf Jahre dran, nicht nonstop, aber immer wieder habe ich versucht, das aufzuschre­iben – da sehe ich schon, dass das wieder so ein Monstrum wird.“

Verglichen damit ist „der Job“in Hollywood – bei dem in Vancouver gedreht wird, mehr darf die Regisseuri­n nicht verraten – eben eine ganz andere Filmwelt. Vermittelt wurde Fingscheid­t von Veronika Ferres, die dort immer wieder coproduzie­rt und aktiv wurde, nachdem sie „Systemspre­nger“bei der Berlinale gesehen hatte. Und Traum hin oder her – „ein solches Angebot lehnt man dann natürlich auch nicht ab, es wird eine Erfahrung werden“. Als „ausführend­e Regisseuri­n“wie sie es nennt. Weil es nicht ihr eigener Stoff sei und Entscheidu­ngen immer mit Studio, Produzente­n und Hauptdarst­ellerin zu treffen seien. „Es soll so kommerziel­l wie möglich sein für so viele Leute wie möglich. Und das muss ich mal gucken, wie’s mir damit so geht“, sagt Fingscheid­t. Und: „Ich komme auf jeden Fall auch wieder zurück. Denn ich liebe europäisch­es Kino – und ich liebe es auch, in meiner Mutterspra­che zu drehen, allein für die Feinheit der Inszenieru­ng.“

Ob das bei Helena auch so ist? Die inzwischen elfjährige Hauptdarst­ellerin aus „Systemspre­nger“dreht bereits in Hollywood, einen Western an der Seite von Superstar Tom Hanks. Aber schon beim ersten Casting bei Fingscheid­t hatte sie ja gesagt: „Ich will ein Star werden.“Die Regisseuri­n dagegen will spannende Filme machen – kann aber freilich auch nicht bei jedem neuen ein Monstrum fürs Kino stemmen. Nach Drehabschl­uss von „Systemspre­nger“war sie ja auch erst mal zwei Monate krank. Insofern nennt

Bereits im Kopf: Die Pläne für das nächste „Monstrum“

sie Hollywood auch „Therapie-Arbeiten“. Und sie ist auch aufgeschlo­ssen gegenüber den StreamingD­iensten: „Wenn ich’s mir aussuchen dürfte, würde ich natürlich nur fürs Kino drehen. Aber die Arbeitsrea­lität sieht ganz anders aus. Nur als Kino-Filmemache­r zu überleben – schwierig.“Und Netflix, HBO und Co. böten ja auch mitunter eine größere Offenheit für Gewagteres, Kreatives: „Deshalb finde ich die Parallelex­istenz ja auch ganz schön“, sagt Nora Fingscheid­t, die Frau der Stunde im deutschen Kino, mit Blick auf die weitere Zukunft.

Und die nähere? In Los Angeles wäre sie ja nun schon mal, wenn im Februar dort die Oscars vergeben werden. Wäre das nicht doch auch Wahnsinn? Also schon mal unter die besten acht internatio­nalen Filme gewählt und damit zur Gala eingeladen zu werden? Oder gar die Trophäe zu gewinnen? Die selbst oscarprämi­erte Kollegin Caroline Link hält das für eher unwahrsche­inlich, weil die Academy eher nicht auf solche harten Stoffe, sondern auf Historisch­es, auf große Panoramen stehe. Nora Fingscheid­t sagt: „Wenn’s passiert, wäre das natürlich toll, aber darüber denke ich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht nach.“Es ist der einzige Moment während der Begegnung, in dem sie nicht ganz offen wirkt.

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Foto: Michaela Rihova, Imago Nora Fingscheid­t vor einem Plakat ihres Films „Systemspre­nger“mit Hauptdarst­ellerin Helene Zengel.

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