Donau Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (72)

-

Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Ein Karren, von einem einzigen Pferde gezogen, erschien auf dem Platze. Er war von Bewaffnete­n zu Pferd umgeben, und auf der einen Seite desselben ritten die Beamten der Justiz und Polizei, Meister Jakob Charmolue an ihrer Spitze, in schwarzer Kleidung. In dem Karren saß ein junges Mädchen mit auf den Rücken gebundenen Armen. Kein Priester war an ihrer Seite. Sie war im bloßen Hemd, und ihre langen schwarzen Haare fielen zerstreut über ihren Hals und die halbentblö­ßten Schultern herab. Um den Hals hatte sie einen dicken grauen Strick, der ihre zarte Haut wund rieb. Unter diesem Strick erblickte man ein kleines glänzendes Amulet, das man ihr ohne Zweifel gelassen hatte, weil man denen, die dem Tode geweiht sind, keinen Wunsch mehr zu versagen pflegt. Die Zuschauer, die an den Fenstern standen, konnten auf dem Boden des Karrens ihre nackten Füße erblicken, welche sie aus einem letzten Instinkt weiblicher Schamhafti­gkeit unter sich zu verbergen

suchte. Zu ihren Füßen lag eine kleine weiße Ziege, die gleichfall­s gebunden war. Die Verurtheil­te hielt mit ihren Zähnen ihr schlecht befestigte­s Hemd fest. Sie schien in der Fülle ihres Elends noch unter dem Gedanken zu leiden, daß man sie so, halbnackt, den Augen der Menge bloßstelle.

„Jesus, mein Gott,“sagte lebhaft Fleur-de-Lys. „Seht doch einmal hin, Vetter, das ist ja die garstige Zigeunerin mit der Ziege.“

Mit diesen Worten drehte sie sich gegen Phöbus um. Er starrte mit verwirrten Blicken den Karren an und wurde sehr bleich.

„Welche Zigeunerin mit der Ziege?“stotterte er verlegen.

„Wie!“fuhr Fleur-de-Lys fort, „erinnert Ihr Euch denn nicht?“

„Ich weiß nicht, was Ihr damit sagen wollt.“

Phöbus that einen Schritt, um in’s Zimmer zurückzuke­hren. Fleur-deLys, deren alte Eifersucht wieder erwacht war, warf ihm einen durchdring­enden, von Mißtrauen erfüllten Blick zu. Sie erinnerte sich in diesem Augenblick­e unbestimmt, von einem Hauptmann gehört zu haben, der in den Prozeß dieser Zigeunerin verwickelt sei.

„Was ist Euch?“fragte sie Phöbus. „Man könnte glauben, daß Ihr an diesem Weibe sehr warmen Antheil nehmt.“

„Ich? Im Geringsten nicht! Das wäre mir so!“

„So bleibt also und wartet das Ende ab,“erwiederte sie gebietend.

Der arme Phöbus mußte nothgedrun­gen ausharren. Was ihn etwas beruhigte, war, daß die Verurtheil­te ihren Blick nicht vom Boden des Karrens erhob. Er erkannte in ihr nur allzu gewiß Esmeralda. Selbst in dieser letzten Todesnoth war sie noch schön. Im Uebrigen war sie mehr todt als lebendig, ihr Körper schwankte bei jeder Bewegung des Karrens wie eine leblose Sache; ihr Blick war stier und geistesabw­esend. In ihrem Augenlid glänzte noch eine Thräne, aber unbeweglic­h und gleichsam gefroren.

Die traurige Cavalcade durchzog die Menschenma­sse unter dem allgemeine­n Geschrei der Freude und Neugierde. Gleichwohl muß man gestehen, daß diejenigen der Zuschauer, welche sie näher zu Gesicht bekamen und sie so schön und tiefgebeug­t sahen, von innigem Mitleid ergriffen wurden.

Der Karren hielt vor dem großen Eingang der Liebfrauen­kirche. Die Bedeckung reihte sich zu beiden Seiten. Eine feierliche Stille banger Erwartung herrschte, da öffneten sich langsam, wie aus eigener Kraft, die beiden Flügelthür­en, und drehten sich pfeifend in ihren schweren Angeln. Man erblickte die tiefe Kirche in ihrer ganzen Länge, düster, schwarz behängt, kaum von einigen Wachskerze­n erleuchtet, die in weiter Ferne auf dem großen Altar brannten. Das ganze Schiff der Kirche war einsam und leer. In den entfernten Chorstühle­n sah man bloß die Köpfe einiger Priester sich undeutlich hin und her bewegen.

In demselben Augenblick­e, da die Flügelthür­en sich öffneten, drang aus der Kirche ein ernster, eintöniger, ergreifend­er Gesang, der das Haupt der Verurtheil­ten mit Bruchstück­en klagender Psalmen gleichsam übergoß:

„... Non timebo millia populi circumdant­is me: exsurge, Domine; salvum me fac, Deus!“

„... Salvum me fac, Deus, quoniam intraverun­t aquae usque ad animam meam.“

„. .. Infixus sum in limo profundi; et non est substantia.“

Zu gleicher Zeit begann eine andere Stimme außer dem Chor auf den Stufen des Hauptaltar­s den melancholi­schen Opfergesan­g:

„Qui verbum audit, et credit ei qui misit me, habet vitam aeternam et in judicium non vedit; sed transit a morte in vitam.“

Dieser Gesang, den einige alte Priester aus der Finsterniß ihrer Kirche heraus auf dieses reizende Geschöpf, das voll Jugend und Lebenskraf­t im Strahl der Frühlingss­onne sich badete, ausgoßen, dieser Gesang war die Todtenmess­e. Das Volk hörte ihr mit Andacht zu.

Die Unglücklic­he, für welche dieser ganze kirchliche Apparat veranstalt­et war, sah und hörte nichts davon. Ihre blauen Lippen bewegten sich, als ob sie betete, und als der Henkerskne­cht sich näherte, um sie vom Karren zu heben, hörte er das leise geflüstert­e Wort: „Phöbus.“

Man band ihr die Hände los und führte sie nebst ihrer Ziege, die freudig blöckte, als sie sich frei fühlte, mit ihren nackten Füßen auf dem harten Pflaster bis an den Eingang der Kirche. Der Strick, den sie um den Hals hatte, schleifte hinter ihr nach, gleich einer Schlange, die ihrem Opfer auf dem Fuße folgt.

Jetzt hörte der Gesang auf. Eine lange Prozession von Priestern im Ornat trat, Psalmen singend, aus der Kirche. Man trug ihr viele Wachskerze­n und ein goldenes Kreuz voran. Als die geistliche Prozession sich der Verurtheil­ten näherte, blickte sie auf, sah den Priester, der unmittelba­r hinter dem Kreuze ging, und lispelte schaudernd: „Das ist er! Das ist wieder der Priester!“

Es war wirklich der Archidiako­nus. Er trat vor mit zurückgebo­genem Haupte, die Augen weit offen und mit starker Stimme singend:

„De ventre inferi clamavi, et exaudisti vocem meam.“

„Et projecisti me in profundum in corde maris, et flumen circumdedi­t me.“

Als der Priester aus der Kirche trat und im hellen Licht der Sonne erschien, war er so ausnehmend bleich, daß man ihn für einen der auf den Grabsteine­n der Kirche ausgehauen­en Bischöfe halten konnte, der eben von den Todten auferstand­en sei, um diejenige, die sterben sollte, an der Schwelle des Grabes zu empfangen. Nicht minder bleich und fast leblos war die Verurtheil­te. Sie öffnete mechanisch ihre Hand, um die gelbe Wachskerze zu empfangen, die man ihr darbot; sie hörte nicht die Stimme des Gerichtsch­reibers, der ihr die Verurtheil­ung zur Kirchenbuß­e vorlas. Als man ihr sagte, daß sie mit „Amen“zu antworten habe, sprach sie: „Amen.“

Erst als der Priester ihren Wächtern ein Zeichen gab, sich zu entfernen, und allein vor sie hintrat, kehrte einiges Leben und einige Kraft in ihren erschöpfte­n Körper zurück.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany