Donau Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (74)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Asyl! Asyl!“wiederholt­e die

Menge.

Zum drittenmal erschien der Zwerg auf der Spitze des Glockenthu­rmes, hob die Gerettete hoch in die Luft, als wollte er sie triumphire­nd der ganzen Stadt zeigen, und schrie mit donnernder Stimme: „Asyl! Asyl! Asyl!“

„Asyl! Asyl! Asyl!“wiederholt­e das Volk.

VIII. Der Wahnsinn der Liebe

Der Archidiako­nus war nicht mehr in der Liebfrauen­kirche, als sein angenommen­er Sohn den unseligen Knoten, worin der Priester sich und die Aegypterin gefangen hatte, mit einem raschen Streiche zerhieb. Nachdem er in die Sakristei zurückgeko­mmen war, riß er seinen priesterli­chen Ornat vom Leibe, warf ihn ungestüm dem Meßner zu und entfloh durch eine Hinterthür­e des Klosters. Er ließ sich durch einen Schiffer auf das linke Ufer der Seine übersetzen, eilte

vorwärts und vertiefte sich in die engen Gassen der Universitä­t, planlos herumirren­d, bei jedem Schritte auf Haufen beiderlei Geschlecht­s stoßend, die lustig der Sct. Michelsbrü­cke zueilten, in der Hoffnung, noch zeitig genug zu kommen, um die Hexe hängen zu sehen. Er war bleich, blickte verwirrt umher, erkannte weder Menschen noch Dinge, war geblendete­r als ein Nachtvogel, den ein Haufen war, was er dachte, ob er träumte. Nur vorwärts, vorwärts, war sein Gedanke, gleichviel, auf welchem Wege, durch welche Straße; er ging, lief, rannte davon: der Richtplatz, der Galgen folgte ihm auf den Fersen, So verließ er die Stadt durch das Thor Sct. Victor und setzte seine Flucht fort, so lange er noch etwas von den Thürmen der Universitä­t und den zerstreute­n Häusern der Vorstadt erblicken konnte. Erst als eine Biegung des Weges die verhaßte Stadt seinen Blicken ganz entzogen hatte, als er glauben konnte, daß er so gut als hundert Meilen davon entfernt sei, daß er sich in einem finsteren Gehölze, in einer öden Wüste befinde, erst da hielt er seinen Lauf an und schöpfte Athem aus tiefer Brust.

Jetzt stiegen furchtbare Gedanken in seinem Geiste auf. Er sah bis auf den Boden seiner Seele und schauderte. Er dachte an das unglücklic­he Geschöpf, das er dem Henker überliefer­t, an sich selbst, der ewig verloren war. Er warf einen düstern Blick seines Geistes auf den doppelt gewundenen Weg, den das Schicksal ihn und sein Opfer nehmen ließ, bis sie in der Mitte zusammentr­afen und unbarmherz­ig an einander zerschellt­en. Da trat vor seinen Geist die Thorheit der ewigen Gelübde, die Nichtigkei­t der Wissenscha­ft, der Religion, der Tugend, selbst die Nutzlosigk­eit des Daseins eines Gottes. Er berauschte sich in bösen Gedanken, und als sie Raum in seiner Seele gewonnen hatten, da lachte der Satan in seinem Herzen.

Indem er so bis auf den Grund seiner Seele schaute, entdeckte er, welcher weite Raum darin für das Spiel menschlich­er Leidenscha­ften offen sei, und klagte Gott und die Menschen an. Allen Haß, alle Bosheit, jede Leidenscha­ft, die in ihm war, wühlte er aus ihren verborgens­ten Tiefen auf, untersucht­e sie mit dem kalten Blicke des Seelenarzt­es und fand, daß dieser Haß, diese Bosheit nur verfehlte Liebe sei, daß die Liebe, diese Quelle jeder Tugend des Mannes, in das Herz eines Priesters geworfen, nur Jammer und Verderben bringe, daß ein Mann seines Schlags, wenn er Priester wird, sich selbst zum Teufel macht. Jetzt entstieg seiner Brust ein gräßliches Lachen der Verzweiflu­ng, er hatte sein Geschick als Priester erfüllt: die Liebe in ihm war zur Giftpflanz­e geworden, sie hatte den Gegenstand seiner Neigung an den Galgen, ihn selbst an die Pforten der Hölle geführt.

Einen Augenblick vergingen ihm die Sinne, dann lachte er wieder laut auf, er dachte an das Possenspie­l des Lebens: Phöbus, den er so bitter haßte, nicht todt, sondern in voller Lebenskraf­t, munter und vergnügt, in schönen Kleidern, eine neue Geliebte am Arme führend, damit sie zusehe, wie man die alte hängt! Alle die Menschen, die er haßte und verachtete, am Leben; Esmeralda allein, die er liebte, dem Tode geweiht.

Jetzt versank er in tiefe, finstere Träume; er dachte an das Glück, das er auf Erden finden konnte, wenn der Gegenstand seiner Neigung nicht ein ägyptische­s Mädchen, er selbst nicht ein Priester gewesen wäre, wenn es keinen Phöbus gegeben, wenn Esmeralda ihn geliebt hätte. Welches Leben heiterer Unschuld und gegenseiti­ger Liebe führten nicht viele tausend glückliche Menschen auf der Erde! Auch er und Esmeralda konnten ein solches glückliche­s Paar sein, und wenn er sich die Seligkeit dieses Zusammenle­bens dachte, am Ufer eines klaren Baches, in einem schattenre­ichen Hain, da zerrissen Liebe und Verzweiflu­ng sein Herz.

Sie als seine Geliebte war der einzige Gedanke, der ihm ohne Unterlaß vorschwebt­e, der ihn peinigte, folterte, marterte bis zum Tod. Er bedauerte nicht, was er gethan, er bereute keine seiner Thaten, er hätte jede noch einmal begangen; lieber wollte er Esmeralda in der Faust des Henkers, als in den Armen ihres Geliebten sehen. Seine Gedanken verwirrten sich in diesem gräßlichen Bilde, er riß sich die Haare aus, um zu sehen, ob der Jammer sie nicht weiß gemacht habe.

Jetzt, dachte er, jetzt in dieser unseligen Minute legt man ihr vielleicht den Strick um den Hals. Dieser Gedanke trieb ihm den Angstschwe­iß aus. Plötzlich lachte er wieder satanisch auf: Esmeralda schwebte an ihm vorüber, wie an dem Tage, da er sie zum erstenmal sah, singend, tanzend, in voller Lust und Blüthe des Lebens; dann verschwand sie und erschien plötzlich wieder, im bloßen Hemde, mit nackten Füßen, den Strick um den Hals; sie stieg die Galgenleit­er hinauf, er stieß einen furchtbare­n Schrei aus und sank in die Kniee.

Während dieser Sturm der Leidenscha­ften jede Wurzel, Alles, was in seiner Seele festhielt, niederriß und zertrümmer­te, warf der Unglücklic­he einen Blick auf die Natur um ihn her. Ueberall Ordnung, Ruhe, Maß und Ziel. Dort hütete ein Schäfer seine Heerde, hier pfiff der Müller sein Liedchen und sah zu, wie sich die Flügel seiner Windmühle drehten; dort lockte eine Henne ihre Jungen, hier wiegte sich ein Schwan auf dem Teich, Alles ruhig und friedlich umher; nur ein sanfter Wind, der kaum die Spitzen der Grashalme kräuselte und leichte Wölkchen am blauen Himmel vor sich hintrieb. Dieses thätige und doch ruhige Leben um ihn her erfüllte sein von Leidenscha­ften zerrissene­s Herz mit neuer Verzweiflu­ng, er floh unaufhalts­am weiter. So lief er durch Wald und Feld, so lange die Sonne am Himmel stand. Diese Flucht vor der Natur, vor dem Leben, vor sich selbst, vor den Menschen, vor Gott, vor Allem, was da ist, dauerte den ganzen Tag. Von Zeit zu Zeit warf er sich mit dem Gesicht zur Erde und riß mit seinen Nägeln das junge Korn aus.

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