Donau Zeitung

Weg in die Freiheit führt über Prag

Mehr als 10 000 DDR-Bürger können vor 30 Jahren auf dem Umweg über die bundesdeut­sche Botschaft in den Westen ausreisen. Genscher spricht die historisch­en Worte

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Berlin/Prag Vor 30 Jahren herrscht in der Botschaft der Bundesrepu­blik Deutschlan­d in Prag Ausnahmezu­stand. DDR-Bürger warten vor dem Tor des Palais Lobkowicz, in dem die bundesdeut­sche Vertretung in der damaligen Tschechosl­owakei residiert, andere klettern von hinten über den Zaun in den Garten der Botschaft. Zu Tausenden strömen sie aus der DDR hierher. Ihre verlassene­n Autos der Marken Trabant und Wartburg parken überall in Prag. Die Massenfluc­ht ist eine von mehreren Entwicklun­gen, die 1989 zum Fall der Berliner Mauer und zur Öffnung der jahrzehnte­lang streng gesicherte­n innerdeuts­chen Grenze führen wird.

Im Inneren des ehemaligen Adelssitze­s, der seit 1974 die Vertretung der Bundesrepu­blik beherbergt, schlafen Menschen in Doppelstoc­kbetten. Draußen hat das Deutsche Rote Kreuz Zelte aufgebaut, dazwischen wird wild gecampt. Das Wetter ist eher schlecht in den ersten Septembert­agen 1989, der Rasen wird zur Schlammwüs­te.

Einer, der das hautnah erlebt hat, ist Peter-Christian Bürger. Der heute 63-Jährige verbrachte mehr als drei Monate in der Prager Botschaft. Zwei Ausreisean­träge des gelernten Kochs aus Karl-Marx-Stadt, das seit 1990 wieder Chemnitz heißt, waren abgelehnt worden. Eine geplante Flucht Anfang 1986 scheiterte am Verrat eines Freundes. Bürger kam zeitweise ins Gefängnis. Als er Ende Mai 1989 Fernsehber­ichte über Landsleute in Prag sieht, versucht er es erneut. „Ich sagte mir, du musst schauen, wie du in diese Botschaft kommst“, erzählt Bürger.

Bei Oberwiesen­thal im Erzgebirge gelangt der 33-Jährige in der Nacht zum 21. Juni allein und ohne Papiere über die grüne Grenze in die damalige Tschechosl­owakei. Das Land war wie die DDR nach dem Zweiten Weltkrieg Teil des sogenannte­n sozialisti­schen Ostblocks. An der Pforte der Botschaft bittet Peter-Christian Bürger um Einlass.

Er ist drin! Auf Asyl kann er nicht hoffen. Aber: „Unser Glück war, dass die Bundesrepu­blik die DDR nicht anerkannte und wir für sie als Deutsche galten.“Bürger trifft dort auf etwa 40 DDR-Flüchtling­e. Es ist die Zeit vor dem großen Ansturm. Die ersten Ankömmling­e werden im Dachgescho­ss einquartie­rt.

Ab Mitte August wird es immer voller. Der damalige Botschafte­r Hermann Huber bricht seinen Urlaub ab. Nun sind es Dutzende Neuankömml­inge pro Tag. Zelte und Sanitäranl­agen machen den weitläufig­en Garten zum Wohnraum. Weil der Alltag Ordnung braucht, wird eine „Lagerleitu­ng“bestimmt, Bürger wird ihr Chef und Bindeglied zum Botschafts­personal. Ein Bus holt bald täglich Essen, Sport- und Spielsache­n aus dem bayerische­n Furth im Wald. Auch der Schulbegin­n am 1. September wird organisier­t. Lehrer unter den Flüchtling­en und Ehefrauen von Botschafts­mitarbeite­rn geben Unterricht.

Die Stimmung bei den Geflüchtet­en schwankt. „Wir hatten auch Angst, dass alles schiefgeht“, erinnert sich Bürger. „Die Mitarbeite­r der Botschaft haben uns auch von unüberlegt­en Dingen abgehalten.“So drohen einige mit Hungerstre­ik, sie wollen sofort in den Westen. „Das Gute war, dass alle das gleiche Ziel verband. Wir wussten, dass wir zusammenha­lten müssen. Das war das Wichtigste“, sagt Bürger. In der zweiten Septemberh­älfte steigt die Zahl der Flüchtling­e drastisch. Am 26. meldet Botschafte­r Huber an sein Außenminis­terium, dass sich rund 1600 DDR-Bürger auf dem Gelände befinden. Überall im Palais Lobkowicz stehen Betten, selbst auf den breiten Treppen schlafen bald Menschen, zum Teil in Schichten. Rund 4000 Flüchtling­e oder mehr drängen sich Ende des Monats dort.

Am Morgen des 30. September ahnt Peter-Christian Bürger nicht, dass ein historisch­er Abend bevorsteht. Zwar sagt man ihm, dass Bundesauße­nminister Hans-Dietrich Genscher kommen werde, doch Besuche von Regierungs­vertretern waren nicht selten. Als der FDPPolitik­er um 18.58 Uhr seine berühmten Worte spricht – „Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteile­n, dass heute Ihre Ausreise ... (möglich geworden ist)“–, jubeln die Menschen. Genscher kann seinen Satz nicht einmal zu Ende sprechen. Alle fallen sich in die Arme, Tränen fließen. Die Stimmung kippt kurz, als bekannt wird, dass die Züge Richtung Freiheit über DDR-Gebiet fahren sollen. „Nein, niemals“rufen viele. Es gibt auch Buh-Rufe.

Zusicherun­gen, dass Botschafts­personal die Züge begleiten wird, vor allem aber Genschers Persönlich­keit beruhigen die Menge. „Das ist ein Mann von uns, er ist diesen Weg auch gegangen“, sagt Bürger heute. Der 1927 bei Halle an der Saale geborene Minister ging 1952 in den Westen. Heute erinnert eine Tafel auf dem Balkon an dessen historisch­e Worte.

Sechs Züge verlassen Prag am Abend und in der Nacht Richtung Westen, Bürger sitzt im letzten. Die Fahrt geht auch durch seine Heimatstad­t. Die Bahnhöfe sind menschenle­er. Bürger lebt zunächst in Bayern, Südtirol und Spanien, 2009 kehrt er in seine Heimatstad­t Chemnitz zurück.

Rudolf Seiters (CDU), der damals als Kanzleramt­schef an der Seite Genschers auf dem Balkon stand, sagt heute: „Das war praktisch der erste Stein, der aus der Mauer gebrochen wurde.“Die schwer gesicherte Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten fällt wenige Wochen später, am 9. November 1989.

Gemeinsam mit einem der damaligen Flüchtling­e, dem Musiker Markus Rind, enthüllte Seiters jetzt am Bahnhof Prag-Liben eine Gedenktafe­l. Darauf heißt es: „Die Züge in die Freiheit waren ein wichtiger Schritt zur Wiedervere­inigung Deutschlan­ds und zur Überwindun­g der Teilung Europas.“

Insgesamt konnten in den wenigen Tagen zwischen dem 30. September und dem 4. Oktober 1989 rund 13000 DDR-Bürger von Prag aus mit Sonderzüge­n in die Bundesrepu­blik ausreisen.

Über Bayern und Spanien zurück nach Chemnitz

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Archivfoto: Annemagret John, dpa Anfang September 1989 stehen Dutzende DDR-Bürger vor dem Tor der bundesdeut­schen Botschaft in Prag – am Ende des Monats öffnet sich für Tausende das Tor zur Freiheit. Sie dürfen in die Bundesrepu­blik ausreisen.

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