Sie weiß, was sich Fußballer zuflüstern
Julia Probst wurde durch ihren „Ableseservice“bei WM-Spielen bekannt. Heute setzt sich die Lippenleserin für die Anliegen von Gehörlosen ein – und kritisiert nicht nur ARD und ZDF
Frau Probst, am Sonntag endete die Internationale Woche der Gehörlosen – was nur wenige wissen dürften. Sie selbst wurden durch Ihren „Ableseservice“bekannt. Sie haben von den Lippen der deutschen Fußball-Nationalspieler gelesen und das dann auf Twitter geteilt. Wie kamen Sie dazu?
Julia Probst: Das ist während der Fußballweltmeisterschaft 2006 entstanden. Im Spiel Deutschland gegen Polen haben sich Lukas Podolski und ein anderer Spieler etwas in die Wolle gekriegt und der deutsche Trainer Jürgen Klinsmann sagte: „Lass es gut sein, das ist es nicht wert“, woraufhin Podolski wegging. Ich musste damals lachen und wurde gefragt, was ich so lustig finde. Da habe ich erst gemerkt, dass Hörende diese Gespräche auf dem Spielfeld gar nicht mitbekommen und ich hier einen Vorteil habe. Ab dann habe ich mit dem Lippenlesen von Fußballern angefangen, auf Twitter dann zur WM 2010. Dass der Erfolg so groß wird, hätte ich nicht gedacht, das war so auch nicht geplant.
Inzwischen halten sich viele Spieler und Trainer die Hand vor den Mund. Wie finden Sie das?
Probst: Das ist eigentlich ein Kompliment für mich. Das zeigt, dass ich meine Arbeit gut gemacht habe. Es ist natürlich ihr gutes Recht, aber eigentlich wäre es nicht nötig, solange man sich fair verhält.
Vor einigen Monaten wurden Sie gefragt, ob Sie ablesen würden, was Bundeskanzlerin Angela Merkel während eines ihrer Zitteranfälle gesagt hat. Sie haben abgelehnt, weil Sie das moralisch verwerflich fanden. Wo ziehen Sie Grenzen?
Probst: Für mich ist eine Grenze überschritten, wenn sich ein Mensch in einer Ausnahmesituation befindet. Das kann zum Beispiel die Gesundheit betreffen. Die Richtschnur meines Handelns war: Angenommen, ich selbst wäre in einer solchen Situation – würde ich dann wollen, dass die Medien über mich auf diese Art und Weise berichten? Ich denke, auch Politiker haben ein Recht auf Privatsphäre, obwohl sie öffentliche Personen sind. Auch Frau Merkel ist nur ein Mensch. Und ich frage mich auch, ob man bei einem Mann genauso reagiert hätte.
Wie sehen Sie eigentlich fern – wenn Sie nicht gerade Fußball-Spielern von den Lippen lesen?
Probst: Ich liebe den Streamingdienst Netflix, den benutze ich wirklich oft. Denn dort sind alle Sendungen untertitelt. Das liegt daran, dass der amerikanische Gehörlosenbund gegenüber Netflix auf der Grundlage des Gleichstellungsgesetzes „Americans with Disabilities Act“erfolgreich eingeklagt hat, dass alle Filme und Serien barrierefrei angeboten werden müssen. Netflix hat das dann auch in allen anderen Ländern übernommen. Und wie ist es im herkömmlichen Fernsehen?
Probst: Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, für den Behinderte seit 2013 auch den Rundfunkbeitrag bezahlen müssen, ist zwar durch die Beitragszahlung die Untertitelquote erheblich gestiegen, was ich auch sehr begrüße. Aber die Qualität der Untertitel lässt leider häufig zu wünschen übrig.
Inwiefern?
Probst: Viele Inhalte werden nur verkürzt oder vereinfacht wiedergegeben. Ich empfehle jedem, sich einmal die „Tagesschau“mit Untertiteln ohne Ton anzusehen. Es ist erschreckend, wie wenig man da mitbekommt. Fragt man nach, werden oft technische Gründe vorgeschoben. Bei US-Sendern oder bei der BBC beispielsweise funktioniert es aber deutlich besser als bei uns. In Deutschland werden Untertitel in einem Block eingeblendet, in den USA erscheinen sie fortlaufend. Da sieht es so aus, als würden sie mit einer Tastatur ins Bild geschrieben. Diese Qualität würde ich mir in Deutschland auch wünschen.
Auf großen Musikfestivals und Konzerten gibt es mittlerweile Gebärdensprachdolmetscher für Musik. Viele Gehörlose kritisieren dieses Angebot jedoch massiv. Woran liegt das? Probst: Die Geschichte von Gehörlosen ist durchzogen von Fremdbestimmung. Nichtbehinderte haben schon immer darüber bestimmt, wozu und in welchem Umfang Gehörlose Zugang zu den Dingen haben. Beim Musikdolmetschen ist es so, dass hörende Gebärdensprachdolmetscher durch ihre Interpretation bestimmen, wie das Bild von uns Gehörlosen von Musik aussehen soll. Musikdolmetschen in der jetzigen Form dient dazu, das schlechte Gewissen vieler Hörender zu beruhigen. Auch kommt hinzu, dass hörende Gebärdensprachdolmetscher nicht wissen, wie wir Gehörlose Musik wahrnehmen und was uns wichtig ist vom kulturellen Hintergrund her. Mit vielen Gesten dieser Dolmetscher können wir außerdem nichts anfangen, weil sie nicht zur deutschen Gebärdensprache gehören. Ich verstehe nicht, warum sich hörende Dolmetscher wie Laura Schwengber dafür feiern lassen, dass sie gebärden können. Ich würde mir vielmehr wünschen, dass man gehörlose Rapper oder Poeten für ihre Kunst bewundert und sie auf die Bühne holt.
Viele Menschen sind unsicher im Umgang mit Gehörlosen. Welchen Tipp können Sie ihnen geben?
Probst: Ich erlebe es oft, dass Gesprächspartner eher den Gebärdensprachdolmetscher oder die Begleitperson ansehen und mit ihm kommunizieren statt mit dem Gehörlosen. Die Dolmetscher sind aber nicht Sprachrohr der Gehörlosen, sie übersetzen nur. Wenn Sie auf einen gehörlosen Menschen treffen, sprechen Sie einfach normal mit ihm. Blickkontakt ist wichtig und etwas mehr Körpersprache hilft. Wenn man ohne Dialekt spricht und darauf achtet, auf Fremdwörter zu verzichten, können wir uns unterhalten. Schreien bringt nichts, das hören wir trotzdem nicht. Ansonsten möchten Gehörlose einfach wie normale Menschen behandelt werden, nicht wie Kleinkinder. Julia Probst ist eine deutsche Bloggerin und ehemalige Politikerin der Piratenpartei. Gehörlosigkeit wurde bei ihr im Alter von etwa einem Jahr festgestellt. Als Aktivistin setzt sich die 37-Jährige für Inklusion und Barrierefreiheit ein. Sie lebt im Landkreis Neu-Ulm.