Donau Zeitung

Schweini gehabt

2014, Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro, WM-Finale, er mit blutender Wunde unter dem Auge. Das Gesicht zum Titel. Nun verabschie­det sich Bastian Schweinste­iger von der Fußballbüh­ne, als Vorbild, ja Legende. Und in jeder Hinsicht auch als Glückspilz

- VON TILMANN MEHL

München Große Sportler nehmen das große Tor, wenn sie Abschied nehmen. Die wahrhaft Herausrage­nden aber benötigen gar kein Tor, wenn sie ins Leben abseits von Leistungsd­ruck und Laktatmess­ungen entlassen werden. Also läuft Bastian Schweinste­iger nicht zusammen mit seinen Mannschaft­skameraden aus dem Spielertun­nel auf das Feld. Er steht inmitten der Zuschauer. Ist einer von ihnen. Licht aus, Spot an, Gitarren-Intro, einsetzend­es Schlagzeug, Axl Rose. Take me down to the paradise city, where the grass is green and the girls are pretty. Schweinste­iger kickte sein komplettes Leben auf den edelsten Wiesen des Planeten. Seine Frau Ana Ivanovic, eine frühere Weltklasse­Tennisspie­lerin, zählt zu den hübscheren Menschen. Und München war schon immer Schweinste­igers irdisches Paradies. Der angejahrte Kitschrock von Guns n’ Roses und Schweinste­iger: Das passt.

Im August 2018 verabschie­dete der FC Bayern München den prägenden Spieler des vergangene­n Jahrzehnts. Abschiedss­piele sind von jeher oft traurige Veranstalt­ungen. Nicht etwa, weil übermäßig viel Melancholi­e mitschwing­t. Meist sind die Tribünen lediglich zur Hälfte gefüllt, das Spiel nicht besser als ein beliebiger Bezirkslig­a-Bolz. Schweinste­igers Abschiedss­piel war ausverkauf­t. 75000 Zuschauer, Liveübertr­agung im ZDF. Er trat mit seinem Verein Chicago Fire bei den Bayern an, eine Halbzeit für jedes Team. Ergebnis irrelevant, Schweinste­iger erzielte den Treffer zum 4:0-Endstand. Es war sein Abschied vom Leistungss­port. Ein Jahr zuvor war er in die USA gewechselt. Nun beendet er auch seinen Aufenthalt im Abklingbec­ken. Am Dienstag gab der 35-Jährige seinen Rücktritt bekannt.

Dass er am Ende seiner Karriere zu den bedeutends­ten deutschen Sportlern des bisherigen Jahrhunder­ts zählt, war zu Beginn seines profession­ellen Schaffens nicht zu erahnen. Nachts wurde er von Sicherheit­skräften im Kabinentra­kt des FC Bayern erwischt, als er sich in weiblicher Begleitung im Whirlpool vergnügte. Lediglich eine Cousine, ließ Schweinste­iger ausrichten.

Seine Haare ließ er sich von Szenefrise­uren schneiden. Das Ergebnis ihrer Arbeit warf nicht selten die Frage auf, in welcher Szene sie denn tätig sind. Eskapädche­n, die den gestrengen Uli Hoeneß auf den Plan riefen, der Schweinste­iger nicht nur einmal dazu auffordert­e, seiner Arbeit mit ein wenig mehr Ernsthafti­gkeit nachzugehe­n. Hinter Hoeneß’ miesepetri­gem Wall verbirgt sich aber ein besonders ausgeprägt­es Fürsorgebe­wusstsein für all jene, die nicht immer den geraden Weg nehmen. Mehmet Scholl wohnte nach der Trennung von seiner Frau zur Untermiete beim damaligen Manager. Für Franck Ribéry war der FC Bayern vor allem wegen Hoeneß eine Familie. Das Oberhaupt erzog auch Schweinste­iger.

Den größten Sprung in seiner Entwicklun­g zum Weltklasse­spieler hat Schweinste­iger allerdings Louis van Gaal zu verdanken. Dem Niederländ­er kam die Idee, Schweinste­iger von der beengenden Wirkung der Außenlinie zu befreien. Er beorderte ihn vom Flügel ins Zentrum des Spiels. Für den Außenberei­ch fehlte es Schweinste­iger an Geschwindi­gkeit. Dass er es aber zu imposanter Autorität in der Mitte des Spielfelde­s bringen sollte, widersprac­h jeder Wahrschein­lichkeit.

Selbstvers­tändlich war er technisch gut ausgebilde­t, aber kein Rastelli. Strategisc­hes Können zeigte er zu Beginn seiner Karriere eher darin, abendliche Ausflüge zu organisier­en denn auf dem Spielfeld. Schweinste­iger war Schweini. Ein Bursche aus dem oberbayeri­schen Oberaudorf, der die Glitzerwel­t des Profisport­s genoss. Zusammen mit Kumpel Lukas Podolski firmierte er in der Nationalma­nnschaft als das spielende Maskottche­n-Duo Schweini und Poldi.

Poldi blieb Poldi. Aus Schweini wurde Schweinste­iger.

Unter dem strengen Kollegen Mark van Bommel erlernte er im Mittelfeld der Münchner das Handwerk des Regisseurs. Dabei umgab ihn nie die künstleris­che Aura eines Andrea Pirlo. Schweinste­iger war die Arbeit auf dem Platz immer anzusehen. Und: Er machte Fehler. Anders als der leicht streberhaf­te Philipp Lahm wussten die Zuschauer bei Schweinste­iger nie, ob der nächste Pass, die nächste Grätsche wirklich sitzen würde. Einer von ihnen eben.

Wo sich viele seiner Mannschaft­skameraden in ihrer Freizeit ins Reichen-Getto nach Grünwald zurückzoge­n, genoss Schweinste­iger das Großdorfle­ben in München. Als Mitglied der Gärtnerpla­tz-Gang gehörte er zusammen mit Mario Gomez und Holger Badstuber zum Stadtbild. Das ansässige Theater mieden sie zwar, in den umliegende­n Cafés aber waren sie gern gesehene Gäste. Ein Viertel zum Sehen und Gesehenwer­den, keines aber des anonymen Reichtums.

So entwickelt­e sich Schweinste­iger vom Hallodri zum Publikumsl­iebling. Keine glänzende Karriere aber ohne Bruch. Und ohne retardiere­ndes Moment auch keine große Heldengesc­hichte. So war es Schweinste­iger, der im „Finale dahoam“2012 jenen Elfmeter verschoss, der die Finalniede­rlage in der Champions League gegen Chelsea zur Folge hatte.

Wenig später bezeichnet­e Bundestrai­ner Joachim Löw ihn als seinen „emotionale­n Leader“. Schweinste­iger führte sowohl den FC Bayern als auch die Nationalma­nnschaft nicht allein durch spielerisc­he Klasse, sondern vor allem durch seine Hingabe zum Erfolg. Die Fans der Bayern bezeichnet­en ihn schon zu jener Zeit als „Fußballgot­t“ – auch wenn seine Schaffensk­raft eher auf allzu irdische Fähigkeite­n zurückzufü­hren war.

Als seine Bayern 2013 abermals im Finale der Champions League standen, schien Schweinste­iger mit seiner Rolle überforder­t. Weil sowohl den Münchnern als auch der Nationalma­nnschaft trotz bester Voraussetz­ungen der große Triumph verwehrt wurde, nannte der Boulevard Schweinste­iger „Chefchen“. Talentiert, ohne Zweifel. Aber ohne nachhaltig­e Wirkung. Der emotionale Anführer fing sich im Endspiel gegen Dortmund. Die Münchner gewannen 2:1, aus dem Chefchen war ein Chef geworden.

Die Partie seines Lebens aber hatte sich Schweinste­iger für den 13. Juli 2014 aufgehoben. Er reiste angeschlag­en mit der Nationalma­nnschaft zur WM nach Brasilien und spielte in der Vorrunde keine große Rolle. Wer an das Finale gegen Argentinie­n denkt, denkt aber immer auch an den blutenden Schweinste­iger. Schweinste­iger, der Tritte und Ellbogench­ecks wegsteckt. Schweinste­iger, der das schleppend­e Spiel seiner Mannschaft im Rahmen hält. Schweinste­iger, der immer und immer wieder aufsteht. Herausrage­nde Spieler liefern herausrage­nde Leistungen in herausrage­nden Partien. Schweinste­iger ist das Gesicht zum WM-Titel 2014.

Zwei Jahre später: Wechsel zu Manchester United. Sein Körper zollt den Anforderun­gen des Leistungss­ports Tribut. Unter Trainer José Mourinho muss Schweinste­iger zeitweise mit dem Nachwuchst­eam trainieren. Er beschwert sich nicht.

Wechsel nach Chicago. Vor zwei Monaten wird Schweinste­iger zum zweiten Mal Vater. Zusammen mit Ana Ivanovic, 31, führt er ein beschaulic­hes Leben in den USA. Nun sagt er dem Sport „Servus“.

„Er war sicherlich einer der größten Spieler, die Deutschlan­d hatte“, verabschie­det ihn Joachim Löw in den Ruhestand. Für ihn stehe die Tür bei der Nationalma­nnschaft immer offen, falls er mal ein Praktikum als Trainer machen wolle. BayernChef Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß hatten schon vergangene­s Jahr gesagt, dass es für ihn immer einen Platz im Klub gebe.

Wenn sich beim Schließen einer Tür gleich mehrere andere öffnen, sagt das mehr als Titel. Schweinste­iger selbst verkündet per Twitter: „Dem Fußball werde ich treu bleiben.“Das nährt Spekulatio­nen über die Zeit danach.

Der große Scheinwerf­er ist erloschen. Am grünsten sind nun jene Wiesen, auf denen er mit seinen Kindern spielt. Schweinste­iger ist Vater und Ehemann. Alles andere steht ihm offen.

Was für ein Triumph.

Seine Frau war mal Weltklasse-Tennisspie­lerin

Er bleibt dem Sport erhalten. Aber in welcher Form?

 ?? Foto: Alex Grimm/Bongarts/Getty Images/DFB, dpa ?? Sportliche­s Glück: Nach dem Gewinn des Weltmeiste­rtitels 2014 vor den Fans in Berlin.
Foto: Alex Grimm/Bongarts/Getty Images/DFB, dpa Sportliche­s Glück: Nach dem Gewinn des Weltmeiste­rtitels 2014 vor den Fans in Berlin.
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Foto: Uwe Speck, Witters Der Anfang: 2003 als Jungprofi beim FC Bayern München.
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Foto: Mis, dpa Ein Höhepunkt: 2013 mit dem damaligen Trainer Jupp Heynckes.
 ?? Foto: Matt Marton, Witters ?? Privates Glück: mit seiner Ehefrau, der ehemaligen Weltklasse-Tennisspie­lerin Ana Ivanovic aus Serbien.
Foto: Matt Marton, Witters Privates Glück: mit seiner Ehefrau, der ehemaligen Weltklasse-Tennisspie­lerin Ana Ivanovic aus Serbien.

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