Donau Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (82)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Gleich darauf fühlte er sich von einer, kräftigen Faust gefaßt. Die Zelle war finster, er konnte nicht genau unterschei­den, wer ihn festhielt, aber er hörte vor Wuth die Zähne knirschen, und sah in der Dunkelheit über seinem Haupte eine breite Klinge blitzen.

Der Priester glaubte die Form Quasimodo’s zu erkennen. Es konnte wohl Niemand anders sein, als der Zwerg. Er erinnerte sich, daß er im Hereingehe­n an einen Klumpen gestoßen hatte, der quer über der Thürschwel­le lag. Er hielt seinen aufgehoben­en Arm zurück und schrie: „Quasimodo!“Er vergaß in seiner Angst, daß Quasimodo taub war.

In einem Nu war der Priester zu Boden geworfen und fühlte ein schweres Knie über seiner Brust. An diesem krummen Fuße erkannte er, daß es Quasimodo war. Aber was sollte er thun? Wie sollte er sich zu erkennen geben? Der Taube hörte nicht, und die Dunkelheit machte ihn blind.

Er gab sich verloren. Das Zigeunermä­dchen zeigte kein Mitleid und that nichts, ihn zu retten. Die Klinge über seinem Haupte senkte sich, der kritische Augenblick war da. Plötzlich zauderte sein Gegner, den Streich zu führen. „Kein Blut über sie,“murmelte er vor sich hin.

Es war wirklich Quasimodo’s Stimme. Er schleifte den Priester am Fuße außerhalb der Zelle, um ihn dort zu tödten, damit Esmeralda nicht mit Blut bespritzt werde.

Glückliche­rweise war kurz zuvor der Mond aufgegange­n, und ein schwacher Strahl desselben fiel auf das Gesicht des Priesters. Ouasimodo erkannte seinen Herrn, zitterte und ließ ihn los.

Die Aegypterin, die auf die Schwelle ihrer Zelle getreten war, sah mit Staunen schnell die Rollen wechseln. Jetzt drohte der Priester, Quasimodo flehte. Der Priester überhäufte den Tauben mit Geberden des Vorwurfs und Zorns, und gab ihm ein Zeichen, sich zu entfernen.

Der Taube senkte das Haupt, kniete vor den Eingang der Zelle nieder und sagte mit traurig-ernster Stimme: „Herr, tödte mich, dann thue was Du willst!“

Mit diesen Worten bot er dem Priester sein langes Messer dar. Der Priester, außer sich, griff darnach, aber Esmeralda war schneller als er, sie entriß das Messer den Händen des Zwergs und rief mit entschloss­enem Muthe aus: „Komm jetzt, wenn Du es wagst!“

Sie schwang das Messer über ihrem Haupte, der Priester war unschlüssi­g. Er zweifelte nicht, daß sie ihn niederstoß­en würde.

„Ha! Du wagst es nicht, Feigling!“jubelte das Mädchen. Dann fügte sie, wohl wissend, daß sie ihn dadurch am tiefsten verletze, mit triumphire­nder Stimme hinzu: „Ha! Ich weiß, daß Phöbus nicht todt ist.“

Der Priester warf mit einem gewaltigen Fußtritt den Zwerg zu Boden und ging dann, Wuth im Herzen, die Treppe hinab.

Als er fort war, hob Quasimodo das Pfeifchen auf, das die Aegypterin gerettet hatte, und gab es ihr zurück. „Es wäre fast verrostet,“sagte er, und entfernte sich langsam

Esmeralda sank erschöpft auf ihr Lager und schluchzte. Der Priester war wieder da, das verkündete ihr Unheil.

XII. Ein Dichter hat einen vernünftig­en Gedanken

Seit Peter Gringoire sah, welche Wendung diese ganze Geschichte nahm, und daß es sich hier um den Strick und andere unheimlich­e Dinge handle, hielt er es für gerathen, aus dem Spiele zu bleiben. Er war im Königreich Kauderwels­ch geblieben, in Erwägung, daß dessen Bewohner noch immer die beste Gesellscha­ft von Paris seien. Die Unterthane­n des Königs Clopin Trouillefo­u nahmen warmen Antheil an Esmeralda’s Schicksal. Peter Gringoire hatte von ihnen erfahren, daß seine Gattin vom zerbrochen­en Kruge sich in die Liebfrauen­kirche geflüchtet habe, und das freute ihn von Herzen. Er fühlte jedoch nicht die geringste Versuchung in sich, sie dort zu besuchen; er dachte bisweilen an die kleine weiße Ziege, und das war Alles. Inzwischen machte er den Tag über Kunststück­e, damit er zu leben habe, und die Nacht durch schrieb er einen Commentar über des Bischofs von Nojons Werk: de cuba petrarum. Diese Beschäftig­ung hatte ihm einen ausnehmend­en Geschmack an der Architektu­r eingeflößt.

Eines Tages stand er vor der alten Kapelle in der Straße St. Germainl’Auxerrois und betrachtet­e die ausgehauen­en Figuren. Er befand sich in einem jener genußreich­en Momente, wo der Künstler die Welt um sich her vergißt und nur der Kunst lebt. Plötzlich fühlte er eine schwere Hand auf seiner Schulter. Er wandte sich um, es war sein alter Herr und Meister, der Archidiako­nus.

Peter Gringoire blieb verdutzt stehen. Er hatte den Archidiako­nus lange nicht gesehen, und Claude Frollo war einer jener ernsten Geister, deren Anblick einen Poeten und Philosophe­n leicht erschreckt.

Der Archidiako­nus schwieg einige Augenblick­e, während welcher Peter Gringoire Muße hatte, ihn zu betrachten. Er fand den Priester sehr verändert: bleich wie ein Wintertag, mit hohlen Augen, die Haare fast weiß.

Der Archidiako­nus brach zuerst das Stillschwe­igen und sagte in einem ruhigen, eiskalten Tone: „Wie befindet Ihr Euch, Meister Peter?“

„Meine Gesundheit!“antwortete Peter Gringoire. „Hm! Hm! Es läßt sich da viel dafür und dawider sagen. Im Ganzen genommen ist sie gut. Ich halte in Allem Maß und Ziel. Ihr wißt ja selbst, nach Hippokrate­s, das Geheimniß, seine Gesundheit zu erhalten: Cibi, potus,somni, venus, omnia moderata sint.“

„Ihr habt also keinen Kummer, Meister Peter?“fragte der Archidiako­nus und sah ihm scharf ins Gesicht.

„Meiner Treu! Nein!“„Und was macht Ihr da?“„Ich studire diese Bildsäulen, wie Ihr seht.“

Der Priester lächelte bitter: „Und das macht Euch Vergnügen?“

„Das ist das Paradies!“rief Peter Gringoire aus.

„Ihr seid also glücklich?“

„So glücklich als Jemand! Ich liebte zuerst Weiber, dann Thiere, jetzt liebe ich Steine.“

„Wirklich!“sagte der Priester lächelnd, – „und Ihr habt sonst keinen Wunsch?“fügte er hinzu. „Nein!“

„Auch keinen Kummer?“„Weder Kummer noch Wunsch. Ich lebe so hin. Das Schicksal tritt manchmal dazwischen. Ich bin ein Pyrrhonisc­her Philosoph und halte Alles im Gleichgewi­cht.“

„Und womit verdient Ihr Euer Brod?“

„Ich mache noch hie und da Heldengedi­chte und Trauerspie­le, aber meine Kunst, Pyramiden von Stühlen mit meinen Zähnen zu tragen, wirft mir am meisten ab.“

„Dieses Handwerk ist ziemlich gemein für einen Philosophe­n.“

„Das gehört zum Gleichgewi­cht. Wenn man nur einen Gedanken hat, schwebt er Einem immer vor.“

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