Ein Sommer, der nicht vergeht
„Merk dir jeden Grashalm!“Ein wunderbarer Roman aus dem Nachlass des 2013 gestorbenen Autors Peter Kurzeck bestätigt erneut eindrucksvoll, was wir an diesem Sprachkünstler und Beobachter haben
Dieser Autor in diesem Buch ist manisch und maßlos. Er will überall zugleich sein, in Vergangenheit und Gegenwart, sich jede Einzelheit merken, nichts verlieren und nichts vergessen und alles beschwören. Er notiert im Gehen, er schreibt auf Kassenbons, Bierdeckel, auf Zettel und in Hefte, er sieht sich zuständig für die Inventarisierung der Welt. „Dass alles vergeht, wie soll man das aushalten?“Seine Manuskripte tippt er immer und immer wieder ab, überarbeitet, ergänzt, schreibt neu und um und anders und mehr. Er ermahnt sich: „Merk dir jeden Grashalm!“
Peter Kurzeck ist immer übermüdet, „wie betrunken von Müdigkeit“, er schreibt, statt zu schlafen, trinkt 20 Tassen Espresso am Tag, vier Liter Tee am Abend, raucht 80 Zigaretten in einer Nacht. Er lebt sein Leben als eine Mitschrift der Welt. „Man kommt nicht zur Besinnung. Oder man kommt zur Besinnung und dann kommt man zu sonst nichts mehr“, schreibt er. Er weiß, dass er ein Sisyphosschreiber ist, ein Berufener, und er hadert mit dem Vergehen der Zeit, der er hinterhernotiert. „Aber warum nur bleibt sie nicht stehen, die Zeit?“So viel Zuständigkeit für so viel Welterfassung!
„Von Rechts wegen braucht man zwei oder drei Tage für jeden einzelnen Tag. Kaum Schlaf. Die meiste Zeit nicht genug Schlaf, weil der Tag mich nicht loslässt.“Seine Lebensgefährtin Sibylle sieht die Lust und Besessenheit dieses Schriftstellers, wie er sich selbstbeauftragt aufarbeitet zwischen den Polen Poesie und Panik: „Aber du bist doch nicht allein zuständig für die Welt! sagt Sibylle. Vielleicht nicht, sagte ich. Wahrscheinlich nicht! Trotzdem muß man seine Arbeit so machen, als ob man es wäre.“
Und das hat der Schriftsteller Peter Kurzeck getan. Auf zehn Bände hatte er sein Romanprojekt „Das alte Jahrhundert“angelegt. Im November 2013 ist Kurzeck im Alter von 70 Jahren gestorben. Doch es gibt einen Nachlass, aus dem mit dem siebten Band „Der vorige Sommer und der Sommer davor“nunmehr das zweite Buch posthum erschienen ist. Für Kurzeck-Leser ist es wieder ein Eintauchen in eine vertraute Welt, der man nicht überdrüssig wird, in eine Sprachmelodie, die süchtig macht. Der Autor, Sibylle und ihre gemeinsame kleine Tochter Carina leben in FrankfurtBockenheim in einer Dachwohnung der Jordanstraße, wir sind in der ersten Hälfte der 1980er Jahre. Ständige Geldsorgen begleiten die Familie, pausenlos rechnet Kurzeck, was geht und was nicht und was vielleicht trotzdem.
Im Sommer trampen sie nach Südfrankreich. Verbringen Zeit mit dem Freund Jürgen und seiner Gefährtin Pascale, die in Barjac ein kleines Restaurant aufgemacht haben. Sind in Saintes Maries de la Mer. Diesen Reisesommer und den südfranzösischen Sommer davor beschwört Kurzeck im nun veröffentlichten Roman. Wie immer ist das Erzählen dieser Gegenwart durchwirkt von Erinnerungen an Staufenberg bei Gießen, das Dorf seiner Kindheit, wohin Kurzeck nach dem Krieg mit seiner Flüchtlingsfamilie aus Böhmen kam. Die Frankfurter Jahre in der Jordanstraße und die Kindheit und Jugend in Staufenberg: Das sind die literarischen Räume, die Peter Kurzeck in seinen Büchern unermüdlich vermisst, auslotet, dehnt und befragt. Der Autor Andreas Maier, der selbst an einem autobiografischen Großprojekt arbeitet („Ortsumgehung“, elf Romane, sieben sind erschienen), nennt Kurzeck „einen Giganten der Literatur“und seine Bücher mit ihrer „Tonschönheit und Verzauberung“ein einziges „großes Gedicht“.
„Der vorige Sommer und der Sommer davor“ist vielleicht eines der besten Bücher dieses Ausnahme-Schriftstellers. Es ist geprägt von Auflistungen, Aufzählungen, Litaneien, Beschwörungen – nichts darf verloren gehen in der literarischen Inventur der Welt. Welt in Gestalt einer Landstraße in Südfrankreich beispielsweise. „Die Straße entlang Zigarettenschachteln, Gauloises, Gitanes, Marlboro. Kaugummi, Kippen, leere Tabakpäckchen, Zeitungen, Zeitungsleichen, Plastiktüten voll Wind. Mäuse, Kröten, Frösche, Ratten, Wasserratten. Tote Mäuse, tote Kröten, tote Frösche und tote Ratten und Wasserratten. Plattgefahren. Tote Schlangen, geplatzte Keilriemen. Pappbecher, Plastikbecher, Flain schen, Glas, Scherben, ein Schuh. Blech, Silber, Rost, Sardinenbüchsen. Prospekte, Verpackung, Eisbecher, Eislöffel, Eispapierchen. Schokoladenpapier, Nuts, Mars, Bounty, Dreck, Abfall, Silber, Gold, Diamanten, Geflimmer, ein zersplitterter Regenbogen, eine Waschschüssel und ein Körbchen. Noch ein Schuh, aber anders.“
Es ist ein Roman über die Liebe zum Sommer, die Freude an langen Tagen; ein Buch über das Schreiben, das Schreibenmüssen und seinen Preis. „Dein Herz klopft. Mußt du jeden Tag den ganzen Tag auswendig lernen?“Und es dürfte wenige Bücher geben, die auf derart berührende Weise vom innigen Verhältnis eines Vaters zu seiner Tochter erzählen. Wie Kurzeck, der „Peta“, seine Zeit mit Carina („ein Träumkind, ein Trödelkind“) verbringt, wie sie gemeinsam die Welt erkunden und imaginieren, in Geschichten und Zeichnungen und Fantasien ausspinnen! Wie Kurzeck Carina ihre Sprache und ihren Ton lässt, die „Mier“sagt, wenn sie „Wir“meint, und „Staufelberg“zu Staufenberg, zeugt von der zärtlichen Achtung des Autors für die Kindheit.
Peter Kurzeck mäandert durch den Sommer und die Zeit, er notiert und registriert und errettet die Welt vor dem Verschwinden, indem er sie literarisch erfasst und verfasst. „Mit offenen Augen. In den Tag hinein und uns Zeit lassen.“Ob es die Porträts der Zufallsfahrer sind, die die Tramper mitnehmen, die Beschwörungen von Märkten, Kneipen, Morgen- und Abendspaziergängen in Südfrankreich: Dieses Buch trägt einen mit in seiner Weltzugewandtheit. „Das Meer ist groß“, schreibt Kurzeck und wünscht sich immer und immer wieder „einen Sommer, der nicht vergeht.“Aber zum Glück erlebt der Autor (und wir dank ihm): „Manchmal ein Sommertag ist lang wie ein Jahr.“
Gerade die Auslassungen in Kurzecks unverwechselbarem Ton sind ein Geschenk an seine Leser, die diesen „Sound“wie einen Sog erleben können. „Durch mich hindurch das Licht. Und vergeht auch. Ich kann es bald nicht mehr aushalten, sagte ich.“Ein Lied, das gegen das Vergehen der Zeit immer und immer wieder gesungen werden muss. Wer die Welt wahrnimmt, darf hoffen auf einen weiteren Tag. „Solang man erzählt“, heißt es in dem Roman einmal, „solang ein Mensch erzählt, solang die Menschen nicht aufhören zu erzählen, kommt immer ein nächster Tag.“
Peter Kurzeck nimmt seine Leser mit auf eine Reise in die Einzigartigkeit jedes Augenblicks. „Die Zeit wie ein Zug, mit den Bildern als Fracht.“Die Gabe dieses Autors ist es, uns für seinen Blick und seine Weltzuneigung einzunehmen. „Auf kleinen Straßen, sagte ich, und alles sehen. Dafür ist man doch auf der Welt! Auf kleinen Straßen und drei oder vier Tage Zeit.“Kurzeck schrieb sein Sommerbuch nach der Trennung von Sibylle und der Entfernung von Tochter Carina. Das macht seine Melancholie aus, die Intensität, das Leuchten. „Beim Schreiben ist immer jetzt!“, heißt es einmal in diesem traurig-schönen
Wunderwerk.
Die Vergangenheit durchwirkt die Gegenwart
Das innige Verhältnis eines Vaters zu seiner Tochter