Donau Zeitung

Wie Justin Trudeau die Balance verlor

Weltweit beneideten viele Menschen Kanada um ihren smarten Premiermin­ister. Doch Umfragen lassen zweifeln, ob er auch noch nach der Wahl Regierungs­chef sein wird. Über einen Politiker, der aus dem Tritt geraten ist

- VON GERD BRAUNE

Manotick/Ottawa An einem strahlende­n Herbsttag fährt der Bus mit dem kanadische­n Premiermin­ister Justin Trudeau und seinem Mitarbeite­rstab vor der Farm von Susan und Ron Miller in Manotick, einem zur Hauptstadt Ottawa gehörenden Dorf vor. „Choose Forward/Choisir D´Avancer“steht auf dem im Liberalen-Rot gestaltete­n Bus – was sich frei mit „Wählt die Zukunft, wählt Fortschrit­t, blickt nach vorne“übersetzen lässt. Das klingt optimistis­ch. Doch es scheint sicher, dass Trudeau bis zum letzten Tag des Wahlkampfs kämpfen muss. Wenige Tage vor der Wahl am 21. Oktober liegt seine Liberale Partei in Umfragen Kopf an Kopf mit den Konservati­ven von Andrew Scheer. Dabei hatte Trudeaus Amtszeit vor vier Jahren mit so viel Schwung und Optimismus begonnen.

Im Sonnensche­in leuchten die orangefarb­enen Kürbisse auf dem Feld. Der Wahlkreisk­andidat der Liberalen Chris Rodgers und seine Familie sind da, auch einige weitere Familien, die meisten von ihnen Anhänger der Liberalen. Trudeau wird freundlich begrüßt. An seiner Hand hat er seinen fünfjährig­en Sohn Hadrien. Dieser freut sich auf die „pumpkins“. Bald ist Halloween, die Kürbiszeit. Mit seinem Vater geht er durch die Reihen prächtiger Gewächse und sucht sich einen schönen aus. Für Justin Trudeau bietet dieser Besuch eine willkommen­e Abwechslun­g und Entspannun­g. Er plaudert mit dem Ehepaar Miller. Im lockeren Umgang mit den Bürgern fühlt er sich wohl.

Für den seit Ende 2015 amtierende­n 47-Jährigen ist es ein schwerer Wahlkampf. Er hatte sich im Sommer aus einem Umfragetie­f herausgear­beitet, aber dann bremste die Veröffentl­ichung eines Fotos aus dem Jahr 2001, das ihn mit dunkel geschminkt­em Gesicht und Turban als Schwarzer verkleidet bei einem Schulfest zeigt, Mitte September seinen Wahlkampfz­ug. Das Foto fügte seinem Image als Repräsenta­nt einer multikultu­rellen, Rassismus ablehnende­n Gesellscha­ft Schaden zu. Trudeau musste sich für das von ihm nun selbst als rassistisc­h bezeichnet­e Verhalten vor fast 20 Jahren, als er an einer Schule in British Columbia tätig war, entschuldi­gen.

Weder Trudeau noch Scheer genießen bei den Kanadiern hohe Popularitä­t. Das Meinungsfo­rschungsin­stitut Nanos Research sieht Liberale und Konservati­ve bei jeweils 32 bis 33 Prozent. Es sei „eng wie eine Messerstec­herei in einer Telefonzel­le“, meint Institutsc­hef Nik Nanos. In Kanadas Wahlsystem ist der Stimmenant­eil aber nicht ausschlagg­ebend. Es kommt darauf an, wer die meisten der 338 Wahlkreise gewinnt. 170 Sitze ist die magische Grenze zur Mehrheit im Parlament. Wer die meisten Stimmen hat, gewinnt den Wahlkreis. Die stärkste Fraktion bildet traditione­ll die Regierung, selbst wenn es eine Minderheit­sregierung ist. Koalitione­n sind Kanada fremd.

Lange sah es so aus, dass die Liberalen in den Kernprovin­zen Ontario und Quebec, wo die meisten Sitze vergeben werden, klar vorne liegen und einen Vorteil bei der Sitzvergab­e hätten. Jüngste Umfragen aber signalisie­ren, dass die sozialdemo­kratische NDP von Jagmeet Singh wichtige Prozente im linksliber­alen, sozialdemo­kratisch und grün bewegten Spektrum gewinnen könnte. In Quebec macht der wiedererst­arkseparat­istische Bloc Québécois den Liberalen zu schaffen. Lachender Dritter wär der 40-jährige Scheer. Die Wirtschaft­sdaten müssten Trudeau einen unbeschwer­ten Wahlkampf sichern und seine Wiederwahl garantiere­n. Die Arbeitslos­igkeit, bei seinem Amtsantrit­t bei sieben Prozent, ist jetzt auf 5,5 Prozent gesunken.

Die Wahl des unberechen­baren Donald Trump zum US-Präsidente­n kostete Trudeau viel Kraft, dennoch gelang es ihm, mit den USA eine Neuauflage des Freihandel­sabkommens Nafta auszuhande­ln. Auch das Handelsabk­ommen Ceta mit der EU ist vorläufig in Kraft. Er hat das Kindergeld angehoben, in einem breiten Segment der mittleren Einkommen den Steuersatz gesenkt. Er hat aber dafür einige Möglichkei­ten abgeschaff­t, Ausgaben von der Steuer abzusetzen. Das macht ihn anfällig für Vorwürfe, er habe Steuern erhöht.

Stets präsentes Thema ist der Umweltschu­tz. Pausenlos attackiere­n die Konservati­ven die zur Senkung der Treibhausg­asemission­en eingeführt­e „Kohlenstof­fabgabe“, die sie als „arbeitspla­tzvernicht­ende C02-Steuer“bezeichnen. Scheer verspricht die sofortige Abschaffun­g der CO2-Abgabe.

Trudeau kontert: Kanada habe unter seiner Führung erstmals einen Plan zur Reduzierun­g der klimaschäd­lichen Emissionen, und diesen wolle Scheer abschaffen. Konservati­ve Regierungs­chefs von Ontario und Alberta torpediere­n die Klimapolit­ik Trudeau, wo immer es geht. „Wir brauchen eine Regierung in Ottawa, die für Kanadier gegen Klimawande­l kämpft“, sagt Trudeau. Scharf kritisiert wird er auch von den Grünen und der sozialdemo­kratischen NDP: Für sie hat Trudeau nicht genug im Klimaschut­z gemacht und durch Entscheidu­ngen zugunsten einer Pipeline Kredit verspielt.

Trudeau hat sich angreifbar gemacht. Er hat einige wichtige Wahlverspr­echen gebrochen. So kam die angekündig­te Reform des Wahlrechts nicht, und das Haushaltsd­efizit, das er bewusst eingegange­n war, aber bis zur Wahl 2019 wieder beseitigen wollte, besteht fort. Noch mehr aber hat Trudeaus Image unte ter der sogenannte­n SNC-LavalinAff­äre gelitten. Dem Premiermin­ister wird vorgeworfe­n, versucht zu haben, auf ein Strafverfa­hren gegen den Bau- und Ingenieurk­onzern Einfluss zu nehmen. Im Zuge der Krise traten mit Jody Wilson-Raybould und Jane Philpott zwei prominente Kabinettsm­itglieder zurück. Der Rücktritt der beiden Frauen und ihr Rauswurf aus der Fraktion kratzen an Trudeaus Image als Feminist. Zweimal tadelte ihn der Ethikbeauf­tragte des Parlaments wegen Verletzung von Ethikregel­n.

Angesichts dieser Anwürfe, versucht Trudeau, die Kanadier mit ruhigem Auftreten für sich zu gewinnen. Auf beleidigen­de Attacken Scheers in einer Fernsehdeb­atte, Trudeau sei ein „Schwindler und Betrüger“, reagierte dieser zur Verwunderu­ng vieler überhaupt nicht. Er präsentier­te sich zurückhalt­end „premiermin­isteriell“, anstatt Scheers Glaubwürdi­gkeit infrage zu stellen. Scheer hatte bis vor kurzem nicht offenbart, dass er auch die USStaatsbü­rgerschaft hat.

Trudeau hatte 2015 die Wahl mit teils unkonventi­onellen Politik-Ideen gewonnen – er setzte auf geänderte Haushalts- und Wirtschaft­spolitik, die Legalisier­ung von Marihuana, die paritätisc­he Besetzung

Im lockeren Gespräch mit den Bürgern fühlt er sich wohl

Sein Image als Sonnyboy ist spürbar verblasst

des Kabinetts mit Männern und Frauen und seine Entschloss­enheit, ein besseres Verhältnis zu den indigenen Völkern zu schaffen. Hinzu kam seine frische und sympathisc­he Ausstrahlu­ng. Er galt für viele Kanadier, aber auch im Ausland als der liberale Sonnyboy. Vier Jahre später ist dieses Image verblasst. Er wirkt nicht mehr so unverkramp­ft und locker. Er ist ein „normaler“Politiker geworden, der polarisier­t.

„Wir unterstütz­en Trudeau“, sagt trotz allem eine junge Frau, die mit ihrem Baby auf die Miller-Farm in Manotick kam. „Ich stimme seiner Umweltpoli­tik zu, und das Kindergeld hilft Familien sehr.“Justin und Hadrien Trudeau sind immer noch mit den Kürbissen beschäftig­t. Hadrien will einen schweren Kürbis auf einen Karren heben. Dafür braucht er die Hilfe seines Vaters. Kein Problem für Trudeau. Im Wahlkampff­inale wird er stärker gefordert als auf der Farm und muss schwerere Dinge stemmen als einen Kürbis, damit die Ära Trudeau nicht bereits nach vier Jahren endet.

 ?? Foto: Gerd Braune ?? Mildes Sonnenlich­t, ein zufriedene­r Sohn, der sich über den großen Kürbis freut. Es gab durchaus unangenehm­ere Wahlkampfa­uftritte für den kanadische­n Premier Justin Trudeau, der keineswegs sicher sein kann, im Amt zu bleiben.
Foto: Gerd Braune Mildes Sonnenlich­t, ein zufriedene­r Sohn, der sich über den großen Kürbis freut. Es gab durchaus unangenehm­ere Wahlkampfa­uftritte für den kanadische­n Premier Justin Trudeau, der keineswegs sicher sein kann, im Amt zu bleiben.

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