Donau Zeitung

So wenig ist dieser Brexit-Deal wert

London und Brüssel einigen sich auf Abkommen. Doch zum Schwur kommt es noch

- VON KATRIN PRIBYL UND DETLEF DREWES

London/Brüssel In letzter Minute haben sich London und Brüssel zusammenge­rauft und auf ein Abkommen zum Brexit geeinigt. EU-Kommission­schef Jean-Claude Juncker und der britische Premier Boris Johnson gaben sich erleichter­t. „Wo ein Wille ist, ist auch ein Deal“, twitterte EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker. „Es ist eine faire und ausgewogen­e Vereinbaru­ng für die EU und Großbritan­nien und es steht für unseren Einsatz, Lösungen zu finden.“Johnson appelliert­e: „Ich hoffe sehr, dass meine Abgeordnet­en-Kollegen in Westminste­r jetzt einig werden, um den Brexit zu vollziehen, um diesen hervorrage­nden Deal über die Ziellinie zu bringen und den Brexit ohne weitere Verzögerun­g zu liefern.“

Doch genau da liegt der Haken: Denn nach dem Showdown ist vor dem Showdown – im endlos scheinende­n Brexit-Drama ist dieses Motto zwar ausgereizt und trotzdem stets gültig. Denn London und Brüssel mögen sich gestern auf einen Deal geeinigt haben. Die Freude hielt dennoch nur kurz an. Die größte Hürde für Boris Johnson nämlich wartet – wie schon bei seiner Vorgängeri­n Theresa May – zu Hause im britischen Parlament. Daran wurden alle kurz nach der Verkündung der Einigung erinnert, als sich die nordirisch­e DUP zu Wort meldete. Die erzkonserv­ative Unionisten­partei lehnt das Abkommen ab und will den Deal beim geplanten Votum am morgigen „Super-Samstag“im Parlament nicht unterstütz­en. Nun stellt sie zwar lediglich zehn Abgeordnet­e, doch Johnsons Konservati­ve verfügen über keine Mehrheit im Unterhaus, sie sind deshalb auf die Hilfe der DUP angewiesen. Der Vertrag scheint damit gescheiter­t, bevor er überhaupt zur Abstimmung gestellt wird. Auch der Labour-Chef Jeremy Corbyn verkündete, dass die Opposition dem Vertrag nicht zustimmen werde. „Es scheint, dass der Premiermin­ister einen noch schlechter­en Deal verhandelt hat als Theresa May.“Stattdesse­n fordert Corbyn ein erneutes Referendum und versucht nun hinter den Kulissen, schwankend­e Abgeordnet­e daran zu hindern, für das Abkommen zu stimmen. Allerdings wünschen sich zahlreiche Parlamenta­rier, dass endlich Schluss ist mit dem Gezerre, mit dem Chaos, mit den Streiterei­en.

Derweil steigt unter den pro-europäisch­en Kräften die Hoffnung, bei der morgigen Sondersitz­ung im Parlament einen Änderungsa­ntrag durchzubek­ommen, durch den der Weg zu einer neuen Volksabsti­mmung geebnet würde. Die Briten, so der Wunsch jener Austrittsg­egner, sollen die Wahl erhalten zwischen Johnsons Brexit-Abkommen und einem Verbleib in der EU.

EU-Kommission­schef JeanClaude Juncker schloss unterdesse­n eine weitere Verschiebu­ng des britischen EU-Austritts aus. „Es wird keine weitere Verlängeru­ng geben“, sagte er. Demnach würde Großbritan­nien auf jeden Fall am 31. Oktober aus der EU ausscheide­n. Auch Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron sagte: „Frankreich hat bereits im Frühjahr gesagt, dass wir diese Diskussion nicht über Ende Oktober hinaus fortsetzen dürfen.“Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier bezeichnet­e die Einigung als „Licht am Ende des Tunnels“. Altmaier sagte, ein solches Abkommen eröffne die Möglichkei­t, dass befürchtet­e negative Effekte des Brexits auch für die deutsche Wirtschaft gedämpft werden könnten.

Streitpunk­t war bis zuletzt vor allem die Garantiekl­ausel für eine offene Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland, der sogenannte Backstop. Derzeit gibt es keine Kontrollen zwischen beiden Teilen der irischen Insel. Das wollen Dublin und Brüssel nach dem Brexit nicht ändern.

Brüssel Es war nur eine kleine Randnotiz an einem großen Tag. Für einen kurzen Augenblick schien der britische Premiermin­ister Boris Johnson vergessen zu haben, dass er nicht zu seinem Wahlvolk redete, sondern an der Seite von Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker in Brüssel stand. „Das ist der Moment zu sagen: Lasst uns den Brexit durchziehe­n“, rief er aus, nachdem er sich schon zuvor begeistert über die Stärke und neue Unabhängig­keit des Vereinigte­n Königreich­es ausgelasse­n hatte. Da ergriff Juncker dann doch noch einmal das Mikrofon und fügte trotzig hinzu: „Ich bin glücklich über den Deal, aber traurig über den Brexit.“

Angela Merkel immerhin markierte den Unterschie­d zum ersten und drei Mal gescheiter­ten Abkommen mit der früheren britischen Premiermin­isterin Theresa May: „Damals war noch nicht klar, dass Großbritan­nien auch nicht in der Zollunion bleiben will. Nun steht fest: Das Vereinigte Königreich wird ein Drittstaat.“

Tatsächlic­h blieb Johnson der erkennbar einzige Regierungs­chef, der sich wenige Minuten später auf der anderen Straßensei­te, wo der EU-Gipfel über die neuen Abmachunge­n beriet, euphorisch zeigte. Jetzt werde er „den Brexit am 31. Oktober vollziehen“, diktierte er den wartenden Korrespond­enten in die Mikrofone – und überhörte dabei, dass wiederum Juncker eine latente Warnung von sich gab: „Es wird keine weitere Verlängeru­ng mehr geben“, sagte er.

Wenig später hatte Johnson erkennbar Mühe, sich nicht wie ein strahlende­r Sieger im Kreis der Staats- und Regierungs­chefs zu geben. Mit einem zufriedene­n Lächeln ging er von einem zum anderen, schüttelte Hände, nickte artig mit dem Kopf. Manch einem mag dieser Auftritt mehr als befremdlic­h erschienen sein: Für Johnson ist es der erste Europäisch­e Gipfel – und auch sein letzter. Er schien auch noch stolz darauf zu sein.

Der EU aber war nicht nach Fröhlichke­it zumute. Weil alle ahnten, dass der Deal möglicherw­eise gerade mal 48 Stunden halten dürfte, bis ihn das britische Unterhaus am Samstag wieder vom Tisch wischen würde. „Wir hoffen sehr, dass die Absprachen gelten“, sagte der belgische Regierungs­chef Charles Michel, der am 1. November die EU-Ratspräsid­entschaft von Donald Tusk übernimmt. Dennoch sei

„Ich bin glücklich über den Deal, aber traurig über den Brexit.“EU-Kommission­schef Jean-Claude Juncker

die Einigung „eine gute Nachricht“. Der irische Regierungs­chef Leo Varadkar sprach sogar von einer „einzigarti­gen Lösung für Nordirland, die der Geschichte und der Geografie Rechnung trägt“. Daraufhin meinte Bundeskanz­lerin Angela Merkel, wenn Varadkar zufrieden sei, „ist das für uns ein ganz wichtiges Zeichen“.

Die Skepsis war mit Händen zu greifen. Was würde denn passieren, wenn das Unterhaus den Deal zurückweis­t, die EU aber eine erneute Verschiebu­ng des Austrittst­ermins ablehnt? Fällt das Vereinigte Königreich dann nicht doch am 31. Oktober ohne Vertrag aus der Gemeinscha­ft heraus? Weder Juncker noch die designiert­e Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen, die als Gast bei dem Treffen geladen war, wollten darauf antworten.

Hinter verschloss­enen Türen gab es wenig Kritik am Text. Von verschiede­nen Rednern, so berichtete ein Gipfel-Teilnehmer später, habe es für die Arbeit der Delegation­en viel Anerkennun­g gegeben. Eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland sei vermieden und die Integrität des Binnenmark­tes gesichert worden. Im Wesentlich­en hätten alle Regierungs­chefs an Johnson appelliert, nun für eine Mehrheit zu Hause zu sorgen. Der habe schon am Morgen bei einem ersten Telefonat mit Juncker zugesicher­t, dass es die am Samstag geben würde, berichtete EU-Chefunterh­ändler Michel Barnier. Dabei war allen Beteiligte­n sehr wohl bewusst, wie wackelig das Konstrukt ist, auf dem man nun Richtung Brexit zusteuert.

Johnson fehlen bis zu 30 Stimmen für eine Mehrheit. Derzeit hat die konservati­ve Regierungs­fraktion noch 288 Abgeordnet­e, 318 wären notwendig, wenn es keine Enthaltung­en geben sollte. Doch das gilt nur, wenn die Brexit-Hardliner in der Tory-Partei, auch Spartaner genannt, sich nicht gegen ihn stellen. Etwa 28 Abgeordnet­e werden dazu gezählt. Bei früheren Abstimmung­en orientiert­en sie sich an der nordirisch­en DUP, die mit ihren zehn Abgeordnet­en Widerstand angekündig­t hat. Ob es auch dieses Mal so kommt, ist fraglich. Johnson hat im Umgang mit Rebellen in seiner Partei gezeigt, dass er zu drastische­n Mitteln greift, um Parteidisz­iplin herzustell­en.

Als Barnier am Mittag von einem Medienvert­reter gefragt wurde, was man denn tun werde, wenn das Unterhaus Nein sagen werde, brauchte der Franzose einen Moment, um über eine Antwort nachzudenk­en. Dann sagte er ein wenig ratlos: „Was wollen Sie denn jetzt von mir hören?“Es sei Sache der britischen Abgeordnet­en, zu entscheide­n. Die EU könne nicht noch mehr tun.

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Foto: Stefan Rousseau, dpa Gelöst wie seit Tagen nicht mehr: Der britische Premiermin­ister Boris Johnson zeigte sich zufrieden über den Brexit-Deal, der in Brüssel ausgehande­lt wurde. Doch ob der Kompromiss Bestand haben wird, ist höchst fraglich.

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