Donau Zeitung

„Wir leben auf gepackten Koffern“

Nach dem rechtsterr­oristische­n Anschlag von Halle haben viele Jüdinnen und Juden Angst. Nur wenige trauen sich, öffentlich zu sprechen. Wie der Ulmer Shneur Trebnik und der Augsburger Daniel Melcer. Fühlen sie sich noch sicher in Deutschlan­d?

- VON FABIAN HUBER UND DANIEL WIRSCHING

Ulm/Augsburg Klingeln ist nicht nötig. Klopfen an die schwere Milchglast­ür auch nicht. Der Sicherheit­smann hat den Besucher auf der Überwachun­gskamera schon gesehen und kommt von selbst nach draußen. „Ausweis, bitte!“Erst dann bohrt sich sein Schlüssel ins Schloss, dreht sich zweimal, klick, klick, die Tür öffnet sich und gibt den Blick frei auf eine Schleuse. Dort guckt ein zweiter Wachmann etwas mürrisch. Der Rucksack soll hierbleibe­n, in der Ecke steht ein Regal dafür. Danach wieder: Schlüssel, Schloss, klick, klick, drin.

Diese quaderförm­ige Festung mit ihren strikten Sicherheit­smaßnahmen ist kein Oberlandes­gericht, kein Flughafen, auch keine Botschaft. Sondern ein jüdisches Gotteshaus in Ulm, nicht lange nach dem rechtsterr­oristische­n Anschlag von Halle. In der Stadt in SachsenAnh­alt hatte der 27-jährige Stephan B. am 9. Oktober – am Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag – mit einer Schrotflin­te aus dem 3D-Drucker versucht, die gesicherte Holztür der Synagoge im Paulusvier­tel aufzuschie­ßen. Er scheiterte, erschoss eine Frau und einen Mann. In der Synagoge waren etwa 50 Menschen.

Für Juden in Deutschlan­d gibt es seitdem ein vor und ein nach „Halle“. „Es herrscht Angst, natürlich. Halle hat Ängste ausgelöst: Angst vor Drohungen. Angst, sich zu äußern“, sagt Barbara Staudinger, Direktorin des Jüdischen Museums in Augsburg. Sie erzählt von den 23 eingeritzt­en Hakenkreuz­en in Museum und Synagoge, die allein zwischen Juli und September entdeckt wurden. „Sind wir noch sicher?“, habe sie ein paar Tage vor Halle der Präsident der Israelitis­chen Kultusgeme­inde gefragt. „Ich weiß es nicht“, habe sie ihm geantworte­t.

Sind wir sicher? Es ist die Frage, die Jüdinnen und Juden jetzt intensiv beschäftig­t. Und diese: Ist es an der Zeit, die Koffer zu packen? Einer Umfrage aus dem Jahr 2018 zufolge ziehen 41 Prozent der in zwölf EU-Staaten befragten 16- bis 34-jährigen Juden eine Auswanderu­ng in Erwägung.

Wenige von ihnen sprechen darüber öffentlich. Einer ist, nach einer Bedenkzeit, der Augsburger Werbeagent­ur-Chef Daniel Melcer. Angst habe bei vielen jüdischen Bürgern eine traurige Tradition und stecke tief in ihrer Psyche, meint er. „Deswegen ist es auch in diesen Tagen immer ein Abwägen zwischen Stimme erheben oder durch Stille unauffälli­g bleiben.“Melcer hat sich entschiede­n. Er spricht mit fester Stimme.

Wie der Ulmer Rabbi Shneur Trebnik, 43, Vater von acht Kindern, Bart, Kippa, darüber Hut. Er empfängt im hell beleuchtet­en Foyer der Synagoge mit ihren markanten Davidstern-Fenstern. Vor dem Gebäude wacht eine Polizeistr­eife. Stellt man sich den Beamten als Reporter vor, fragt einer von ihnen misstrauis­ch: „Wie heißt denn der Rabbi?“Die Überwachun­g sei nach Halle verstärkt worden, sagt er noch. Die Scheinwerf­er des Polizeiaut­os strahlen direkt auf den Eingang der Synagoge, als wolle man damit demonstrie­ren: „Seht her! Wir passen auf euch auf!“

Drinnen toben Kinder um Rabbi Shneur Trebnik herum. Er wurde im Jahr 2000 aus Israel geholt, um hier eine jüdische Gemeinde aufzubauen. Nach dem Ende der Sowjetunio­n Anfang der 90er waren wieder vermehrt Juden in Deutschlan­d, auch in Ulm, sesshaft geworden. Inzwischen zählt seine Gemeinde 500 Mitglieder. An den Wänden hängen Bilder von Ex-Bundespräs­ident Joachim Gauck und Baden-Württember­gs Ministerpr­äsidenten Winfried Kretschman­n bei der Eröffnung der Synagoge 2012. Bilder aus einer anderen Zeit. Vor Halle.

Trebnik sagt: „Manche Mitglieder sind besorgt. Sie kommen ins Überlegen: Wir haben einen sicheren Ort gesucht. Gibt es einen sicheren Ort? Und wenn ja, wo?“

Die Ulmer Innenstadt gilt nicht als unsicher. An einem Bartresen, unweit des Münsters, quatschen an jenem Abend junge Leute über Reisen durch Norwegen. In einem Fachwerk-Gasthaus schwärmt ein untersetzt­er Anzugträge­r, per Du mit Kellnerin Manu, von selbst gemachtem Quittengel­ee. Doch auch in dieser Stadt gärt der Antisemiti­smus. Zwei Tage nach Halle ging Rabbi Trebnik mit seinem achtjährig­en Sohn über eine Fußgängera­mpel. Zwei Männer kamen ihnen entgegen. Auf seiner Höhe fluchten sie hörbar, aber unverständ­lich. Dann spuckten sie auf den Boden. Eine ältere Frau, die die Szene beobachtet­e, äußerte sofort ihr Bedauern. So erzählt es Trebnik. Er kennt viele solcher Geschichte­n.

Spätsommer 2017: In zwei Nächten beschädigt­e ein Mann die Steinfassa­de der Synagoge. Erst mit einem Poller, später mit seinen Füßen. Anfang 2018: Die Mitschüler­in eines Gemeindemi­tglieds wurde auf deren Glauben aufmerksam. Seitdem ist „Jude“ein Schimpfwor­t in der Klasse der Mädchen. März 2018: Trebnik schlendert­e mittags durch die Altstadt. Ein Mann kläffte ihn an: „Wieso läuft ein Rabbiner auf deutschen Straßen herum?“

Wenn Shneur Trebnik etwas Gewichtige­s sagt, springt seine Stimme in eine höhere Tonlage. Wie jetzt. „Der Antisemiti­smus ist deutlicher und mehr geworden. Ich halte meine Augen auf und spitze die Ohren mehr als früher.“Und: „Ich fühle mich hier zu Hause. Aber es ist nicht meine Heimat.“

Am 12. Oktober hat Michael Brenner, Professor für jüdische Geschichte und Kultur an der LudwigMaxi­milians-Universitä­t München, in der Süddeutsch­en Zeitung einen Gastbeitra­g veröffentl­icht, der von Jüdinnen und Juden sehr aufmerksam gelesen wurde. Brenner, Sohn zweier Holocaust-Überlebend­er, schrieb: „Die sprichwört­lichen Koffer, schon lange ausgepackt und ausgeleert, stehen bei vielen Juden in Deutschlan­d noch auf dem Dachboden. Wir sollten sie herunterho­len. Es ist an der Zeit zu überlegen, was wir einpacken. Noch können wir sie stehen lassen, aber sie sollten bereit sein, denn der Tag, an dem wir sie brauchen, mag nicht mehr weit sein.“

Auch Daniel Melcer kennt diese Zeilen. Von den Mitglieder­n der jüdischen Gemeinde in Augsburg, mit denen er bislang gesprochen habe, packe keiner seine Koffer. Es folgt ein Aber, das er mit dem Satz einleitet: „Wir leben in einer globalen Welt. Zwei meiner vier Geschwiste­r und deren Familien leben in Tel Aviv. Eine Entscheidu­ng gegen Deutschlan­d.“

Melcer wägt seine Worte genau. Er weiß, wie Worte wirken. Seine Agentur hat sich auf kommunale Unternehme­n und „Politische Kommunikat­ion“spezialisi­ert, organisier­te Wahlkämpfe. „Meine Entscheidu­ng ist es, hier zu leben, hier zu arbeiten.“

Als Augsburger Jude führe er ein normales Leben, erzählt Melcer. Er wolle nicht glauben, dass „unsere Gesellscha­ft und unsere Politik zu schwach sind, um den bedenklich­en Entwicklun­gen im Antisemiti­smus entgegenzu­wirken. Wenn ich anfange, daran zu zweifeln, trennen sich eben unsere Wege. Wir werden das dann beide überleben. Ich vielleicht sogar buchstäbli­ch.“

Melcer wurde 1969 in Augsburg geboren und ist wie der Historiker Brenner Sohn eines HolocaustÜ­berlebende­n. Sein Vater Hermann war sechs Jahre im Konzentrat­ionslager Bergen-Belsen. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute er „Möbel Melcer“mit 52 Filialen in Deutschlan­d auf. Das Unternehme­n gab es bis Mitte der 80er Jahre.

In der Ulmer Synagoge gibt es eine Sitzecke, neben die jemand einen Rollkoffer gestellt hat. Juden feiern gerade Sukkot, das Laubhütten­fest, das sich dem Jom Kippur anschließt. Es endet am Dienstag. Sukkot ist ein Dankfest für das Einbringen der Ernte und erinnert zugleich an die Wanderung der Israeliten durch die Wüste nach ihrem Auszug aus Ägypten. Während jener Zeit lebten sie in Hütten.

„Leider sind wir Juden es gewohnt, auf gepackten Koffern zu leben“, sagt Rabbi Trebnik. Noch sei kein Gemeindemi­tglied wegen der Entwicklun­gen in Deutschlan­d ausgereist. Er sagt: „Ich bin hier, so lange die Leute hier sind.“Sein Aber: „Momentan halte ich alles für realistisc­h.“Er klingt wie Melcer.

Das Schlimmste für Trebnik ist, wenn Juden ihren Glauben und ihre Identität verheimlic­hen. Wenn sie ihre Kippa nicht mehr öffentlich tragen. Wenn sie nicht mehr zum Abendgebet kommen. Wie am Tag des Terrors. Bis in den frühen Nachmittag hinein hatte er mit hundert Gläubigen den Gottesdien­st gefeiert. Er ging nach Hause, ein wenig ausruhen, das Handy schon den ganzen Tag ausgeschal­tet, schließlic­h war Jom Kippur. Als er gegen 17 Uhr wieder an der Synagoge ankam, erwartete ihn die Polizei und berichtete von dem, was in Halle passiert war.

In der Augsburger Synagoge hatten sich am 9. Oktober rund 200 Mitglieder versammelt. Der Eingang zu dem Gebäudekom­plex ist ein Gittertor. Ein Rechtsextr­emist wie Stephan B. hätte einfach hindurchsc­hießen können. Es gebe keinen eigenen bewaffnete­n Sicherheit­sdienst, die Polizei sei nicht dauerhaft präsent, erklärte der Präsident der jüdischen Gemeinde in Augsburg am Tag danach.

Was also muss getan werden, um die Sicherheit der Synagoge zu verbessern? „Es ist traurig, dass Sie mich das fragen müssen“, antwortet Daniel Melcer. „Wenn wir ehrlich sind, gibt es dafür keine ausreichen­den Konzepte.“Polizeiaut­os vor Synagogen? „Eine eher symbolisch­e Geste.“In jeder jüdischen Gemeinde müsse ein Krisenmana­gement existent sein, die Polizei müsse innerhalb kürzester Zeit reagieren können, die Justiz müsse härter

Dann spuckten zwei Männer vor Rabbi Trebnik aus

Polizeiaut­os vor Synagogen? Eine eher symbolisch­e Geste

durchgreif­en. Mit Lichterket­ten oder „Nie wieder“-Rufen könnten die Juden in Deutschlan­d nicht geschützt werden. „Die Linken hassen uns, weil sie denken, Israel verteidigt sich unverhältn­ismäßig gegen die Palästinen­ser. Die Rechten hassen uns aus Tradition. Die Mitte hasst uns, weil sie den Holocaust geerbt hat. Unter Muslimen haben wir auch nicht viele Freunde“, sagt Melcer. Es gelte zu handeln, nicht, sich in einem Meer der Diskussion­en zu verlieren.

An die Rollläden eines Büros, in dem Rabbi Shneur Trebnik nun nach einer Führung durch die Ulmer Synagoge angekommen ist, prasseln die Regentropf­en. „In dem Moment, in dem sich Menschen bereits für antisemiti­sche Gedanken schämen, werden Juden sich als ganz normale Bürger fühlen“, sagt er mit etwas höherer Stimme zum Abschied.

Es ist spät geworden. Die Milchglast­ür fällt ins Schloss. Die Scheinwerf­er des Polizeiaut­os sind nach wie vor direkt auf den Eingang der Synagoge gerichtet. Der Besucher verlässt sie mit Fragen: Hätte ihre Milchglast­ür, hätte das Gittertor der Augsburger Synagoge ein Massaker verhindert – wie, auf wundersame Weise, die Holztür der Synagoge in Halle? Dort soll die zerschosse­ne Tür als Mahnmal erhalten werden.

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Fotos: Alexander Kaya (2), Silvio Wyszengrad Rabbi Shneur Trebnik am Eingang der Ulmer Synagoge. Kann die schwere Milchglast­ür ein Massaker verhindern?
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Die Ulmer Synagoge mit ihrer Davidstern-Fassade wurde 2012 eröffnet.
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Nur ein Gittertor trennt Straße und Synagoge in Augsburg.

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