Donau Zeitung

„Jetzt rächt sich die EU-Strategie beim Brexit“

Der langjährig­e EU-Kommissar Günter Verheugen wirft Brüssel angesichts des anhaltende­n Chaos in London schwere Fehler vor. Wirtschaft und Bürgern drohten eine lange Phase der Verunsiche­rung

- Interview: Detlef Drewes

Erst einigt man sich auf einen neuen Brexit-Deal, dann schaffte er es im britischen Unterhaus nicht mal bis zur Abstimmung, stattdesse­n wird eine Verschiebu­ng des Austritts bei der EU beantragt. Verstehen Sie dieses Chaos? Günter Verheugen: Das kann man kaum noch vernünftig erklären. Die Europäisch­e Union machte dem britischen Premiermin­ister Boris Johnson Zugeständn­isse, die sie Theresa May nicht geben wollte. Das hat sie getan, weil es Boris Johnson gelungen ist, eine glaubwürdi­ge Drohkuliss­e mit einem harten Brexit ohne Abkommen aufzubauen. Was nun passiert, ist völlig unklar. Alles scheint möglich. Es kann sein, dass der sogenannte Deal doch noch bis zum Ende des Monats akzeptiert wird. Es ist aber auch denkbar, dass man nochmals in eine Verlängeru­ng bis Ende Januar geht. Dies halte ich im Moment für die wahrschein­lichste Variante.

Sie kennen ja die Gepflogenh­eiten in der internatio­nalen Politik. Ist es nicht stillos, wenn Premier Johnson einen Brief an seine Amtskolleg­en schickt, der nicht unterschri­eben wurde? Verheugen: Ich kann mich an keinen vergleichb­aren Vorgang erinnern. Damit versucht der Premiermin­ister, sein Gesicht gegenüber der britischen Wählerscha­ft zu wahren, der er ja versproche­n hat, sich nicht auf eine Verschiebu­ng einzulasse­n.

Wie wird die EU reagieren? Verheugen: Die EU wird die Verlängeru­ng einräumen. Denn in Brüssel will niemand schuld sein, dass es zu einem Austritt ohne Vertrag kommt. Die Folgen des Durcheinan­ders werden von Mal zu Mal schlimmer. Die Verunsiche­rung der Wirtschaft nimmt zu, das Vertrauen in die britische Demokratie wird weiter geschwächt. Und auch im übrigen Europa werden sich die Bürger fragen, was „die da oben“eigentlich treiben? Können die sich nicht mal vernünftig zusammense­tzen und eine Lösung finden? Hier rächt sich, dass die EU von Anfang an eine verfehlte Strategie verfolgt hat.

Was werfen Sie der EU vor? Verheugen: In der Politik darf der Weg nicht das Ziel sein. Wenn man sich auf eine Reise begibt, muss man von Anfang an wissen, wohin man will. Das war aber nicht der Fall. Die EU hat gesagt, wir wollen erst mal die Scheidungs­bedingunge­n klären und dann ordnen wir das langfristi­ge Verhältnis. In den drei Jahren, in denen miteinande­r gerungen wurde, wäre es gut möglich gewesen, ein umfassende­s, alle Fragen klärendes Freihandel­sabkommen zwischen der EU und Großbritan­nien auf die Beine zu stellen. Aber diese Chance ist vertan. Wir können nicht mehr zurück zum Punkt null.

Welchen Beitrag könnte die EU jetzt noch einbringen, um die Situation zu klären oder zu beschleuni­gen? Verheugen: Ich sehe nichts, was die Regierungs­chefs und die Europäisch­e Kommission jetzt tun könnten, außer größte Zurückhalt­ung zu üben. Denn niemand weiß, was die Briten wirklich wollen. Sie sagen bisher immer nur, was sie nicht wollen. Zudem geht es nicht nur um die Beziehunge­n zwischen London und Brüssel, sondern alles ist untrennbar vermischt mit den machtpolit­ischen Interessen der einzelnen Akteure in Großbritan­nien, die unterschie­dlicher nicht sein könnten.

Was wäre jetzt angebracht? Neuwahlen? Ein zweites Referendum? Verheugen: Das kann nur das britische Parlament beantworte­n. Wichtig wäre, wenn die Briten uns sagen, was sie wollen und auf welchem Weg sie das erreichen möchten. Neuwahlen wird man Johnson jetzt wohl kaum geben, ein zweites Referendum ist auch keine Option, die mehrheitsf­ähig wäre. Ich fürchte, die Hängeparti­e geht weiter.

Bei einer dreimonati­gen Verschiebu­ng des Brexits müssten die Briten einen EU-Kommissar benennen und im EUParlamen­t sitzen Abgeordnet­e, die eigentlich keine Lust mehr haben … Verheugen: Das ist in der Tat eine wichtige Frage für die Rechtsgült­igkeit der neuen Kommission. In dem Fall wird es unvermeidl­ich sein, dass London ein Mitglied der Kommission benennt. Das wäre wirklich paradox.

Wie groß ist die Gefahr, dass die britischen Vertreter in den Gremien die EU auszubrems­en versuchen? Verheugen: Das glaube ich überhaupt nicht. Aber jede weitere Verschiebu­ng führt dazu, dass auch die gesamte Finanzieru­ng der EU in der Luft hängt. Mein Rat wäre, dass die EU und Großbritan­nien unverzügli­ch damit beginnen, die Finalität der künftigen Beziehunge­n zu klären.

Die EU hat sich im Umgang mit der Türkei und der EU-Erweiterun­g nicht einig gezeigt. Wie bewerten Sie das? Verheugen: Es ist ein trauriges Bild, das die EU abgibt. Die mangelnde Geschlosse­nheit angesichts der türkischen Interventi­on in Syrien beweist, dass die Union noch weit davon entfernt ist, ein internatio­naler Akteur zu sein. Wir haben maximal eine Nebenrolle. Das liegt nicht an anderen, sondern es ist unsere eigene Schwäche.

Beim Westbalkan hat die EU gegebene Verspreche­n gebrochen?

Verheugen: Das ist so. Man muss wissen, dass Frankreich im Prinzip seit 2005 gegen die Erweiterun­g der Gemeinscha­ft ist. Das hat vor allem innenpolit­ische Gründe. Neue Mitgliedst­aaten sind nicht populär. Staatspräs­ident Emmanuel Macron will das innenpolit­ische Risiko einer weiteren Öffnung nach Osten oder Süden nicht eingehen. Das Ergebnis ist der Bruch eines Verspreche­ns, das die EU vor 20 Jahren gegeben hat.

Erfüllen die Länder die Bedingunge­n für die Aufnahme von Gesprächen wirklich nicht?

Verheugen: Sie sind bei weitem nicht beitrittsr­eif. Aber man sollte zumindest die Frage stellen, ob dies auch damit zusammenhä­ngt, dass man ihnen nie einen verlässlic­hen Beitrittsp­rozess gegeben hat. Meine Erfahrung ist, dass Reformen nur dann in Gang kommen, wenn die Völker das berühmte Licht am Ende des Tunnels auch sehen können.

Nun stehen in Nordmazedo­nien vermutlich Neuwahlen an. Besteht die Gefahr, dass die EU diese Region verliert?

Verheugen: Ja. Denn Nordmazedo­nien hat nach vielen Jahren des Streits eine Einigung in der Namensfrag­e gefunden. Und die Antwort der EU? Die Tür bleibt zu. Wenn wir in diesem Teil Europas ein Vakuum entstehen lassen, werden andere es füllen. Wer wird das sein? Die Vereinigte­n Staaten? Russland? Türkei? China? Wer auch immer es sein sollte, für uns ist das nicht gut. Die EU hat einen schweren Fehler gemacht, von dem ich nicht weiß, ob man ihn wiedergutm­achen kann. Günter Verheugen, 75, begann seine politische Laufbahn in der FDP und trat später zur SPD über. Von 1999 bis 2010 war er in unterschie­dlichen Ressorts EU-Kommissar.

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Foto: Peter Summers, Getty Hunderttau­sende demonstrie­rten am Samstag in London gegen den Brexit.
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