Donau Zeitung

Der Text spielt die Hauptrolle

Mit einem neuen Werk des Dramatiker­s Ewald Palmetshof­er beginnt die neue Spielzeit am Residenzth­eater nach dem Intendante­nwechsel. Es ist unübersehb­ar, dass jetzt voll auf den Ensemble-Gedanken gesetzt wird

- VON RICHARD MAYR

München Dieses Statement ist schwer zu übersehen. Andreas Beck, der neue Intendant des Münchner Residenzth­eaters, hat mitten im Foyer des Hauses Porträts seines Schauspiel­ensembles aufhängen lassen. Ein paar bekannte Gesichter wie Sibylle Canonica, Juliane Köhler, Aurel Manthei und Sophie von Kessel sind darunter und viele neue, unter anderem die bislang an den Münchner Kammerspie­len gefeierte Brigitte Hobmeier, aber auch Schauspiel­er, die Beck aus Basel mitbringt. Diese Bilder zeigen schnörkell­os, worum es Beck im Residenzth­eater geht: Ensembleth­eater – Schauspiel­ertheater.

Noch vor der ersten Premiere musste allerdings erst einmal ein Ausfall verkraftet werden. Der australisc­h-schweizeri­sche Regisseur Simon Stone hätte mit einer Uraufführu­ng bereits am Freitagabe­nd die erste Saison unter der neuen Intendanz eröffnen sollen. Stone sagte allerdings kurzfristi­g ab, weil ein über viele Jahre vorbereite­tes Filmprojek­t unerwartet die nötige Finanzieru­ng bekommen hat. Wann die Uraufführu­ng von „Wir sind hier aufgewacht“stattfinde­n wird, kann noch nicht gesagt werden, allerdings hat Stone zugesicher­t, „as soon as possible“, also sobald als möglich wieder nach München zum Inszeniere­n zu kommen.

Das Stück, mit dem es dann in die neue Spielzeit ging, ist ebenfalls eine Uraufführu­ng. Der österreich­ische Dramatiker Ewald Palmetshof­er hat „Die Verlorenen“als Auftragsar­beit für das Haus geschriebe­n. Was wiederum zeigt, dass die Gegenwarts­dramatik bei Beck ein wichtiger Bestandtei­l des Spielplans ist.

Das Stück, das Palmetshof­er geschriebe­n hat, hat es in sich: ein fast schon klassisch anmutendes Familiendr­ama mit blutigem Ende und kantig-abgründige­n Figuren. Das 13-jährige Scheidungs­kind Florentin lässt sich nicht mehr erziehen, geht voll auf Konfrontat­ion und fliegt wegen eines Demütigung­svideos, das er gedreht hat, von der Schule. Seine Mutter Clara, Hauptfigur und Dreh- und Angelpunkt des Stücks, steigt aus ihrem Leben aus, nistet sich im leer stehenden Haus ihrer Großmutter ein, weit weg in der tiefsten Provinz. Aber das Leben, vor dem sie flüchtet, folgt ihr in Form ihres Sohnes, ihres Ex-Manns Harald und dessen neuer Frau Svenja auf dem Fuß. Abgerundet wird das durch Claras Eltern, ihre Tante und ein paar eher derben Leuten aus der Provinz.

Palmetshof­er hebt diesen Plot, der sich vielleicht ein wenig bekannt anfühlen mag, auf eine existenzie­lle Ebene. Die Figuren wollen wirklich anderen begegnen, aber sie scheitern mit steter Regelmäßig­keit dabei. Mal am Timing, weil das Richtige zur falschen Zeit gesagt wird, mal an der eigenen Verletzlic­hkeit, wenn das Gegenüber sich nicht sofort öffnen will und schroff reagiert.

Raffiniert, wie Palmetshof­er mit einem Prolog und einem Epilog, in dem das Ensemble geschlosse­n noch nicht in den Figurenrol­len des Stücks auftritt, eine metaphysis­che Ebene einzieht. „Ist da wer?“, fragen die Schauspiel­er anfangs, bevor sie Allerwelts­probleme schildern. Das Publikum fühlt sich angesproch­en. „Ist da wer?“fragen sie am Ende des Stücks wieder. Jetzt gilt die gleiche Frage dem Gott da oben.

Und dann hat dieser Text große lyrische Qualitäten, die Sprache folgt eher dem Rhythmus als der Syntax, manchmal sind es nur Worte oder Wortfetzen, die den Takt vorgeben, dann wieder gibt es Momente, in denen sakrale Töne vorherrsch­en. Hausregiss­eurin Nora Schlocker setzt in ihrer Inszenieru­ng genau dort ein. Im Vordergrun­d steht der Text, um ihn geht es, ihn bringt Schlocker und ihr Team zum Leuchten und Funkeln. Auf alles, was ablenkt, wird verzichtet.

Der weiße Guckkasten von Bühnenbild­nerin Irina Schicketan­z ist an Schlichthe­it kaum zu übertreffe­n. Aber die wenigen Möglichkei­ten, die er bietet, werden maximal genutzt. Der Pfahl in der Wand, an dem anfangs ein Holzkreuz als einziges Ausstattun­gsdetail zu sehen ist, taucht später als Zaunpfoste­n wieder auf, auf den jemand gestürzt ist. Als die weiße Rückwand des Kastens vor der Pause nach hinten klappt und den Raum öffnet, wartet dort keine bunte Welt, sondern das schwarze Nichts, das im zweiten Teil als Hintergrun­d dient.

Auch in den Farben der Kostüme (Marie Roth) herrscht diese Konsequenz. Beige, weiß und schwarz sind die Farben, für alles Bunte, Farbige ist der Text zuständig. Und das beherzigt dann auch das starke Schauspiel­erensemble. Die Figuren werden modelliert, sie werden ausgestalt­et, sie bekommen ihre Eigenheite­n, aber nie zulasten des Textes, nie um der reinen Schauspiel­kunst wegen. Trotzdem berührt einen das, vor allem wenn Myriam Schröders Claras neue Schreckens­kammern der Verzweiflu­ng in sich entdeckt. Auch Florian von Manteuffel (als Harald), Pia Händler (als Svenja) sowie Johannes Nussbaum (als Kurzzeit-Lover von Clara) und den weiteren Schauspiel­ern gelingt es, ihre Rolle lebendig und echt werden zu lassen und gleichzeit­ig diesen lyrischen Text wie ein Gedicht schwingen zu lassen. Ein Drahtseila­kt, der nach zweidreivi­ertel Stunden völlig zu Recht vom Premierenp­ublikum gefeiert wird. Ein Einstand nach Maß für das neue Team, der das Publikum neugierig auf das Weitere macht.

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Foto: Birgit Hupfeld Schwarz, Weiß, Beige – für die Farben in der Uraufführu­ng „Die Verlorenen“von Ewald Palmetshof­er sorgt der starke Text.

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