Donau Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (92)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

In einiger Entfernung hinter ihnen flüsterten miteinande­r zwei Männer in flämischer Kleidung, in denen Jeder, welcher der Vorstellun­g des Mysteriums im Justizpala­ste angewohnt hatte, leichtlich Wilhelm Rym, den klugen Rathsherrn, und Jakob Coppenole, den populären Strumpfweb­er, wieder erkennen konnte. Diese beiden Männer waren, wie wir schon wissen, in die geheimnißv­olle Politik Ludwigs XI. eingeweiht.

Ganz im Hintergrun­de, nahe an der Thüre, im Halbdunkel, stand, aufrecht und unbeweglic­h, gleich einer Bildsäule, ein Mann von kräftigem Gliederbau in kriegerisc­her Rüstung. Sein gemeines, plumpes Gesicht war eine Mischung von Hund und Tiger.

Alle standen mit entblößtem Haupt, nur der König saß und war bedeckt. Der Herr, der hinter seinem Stuhle stand, las ihm aus dem langen Zettel vor, den er in seiner Hand hielt, und der König schien ihm aufmerksam zuzuhören. Die

beiden Flamänder flüsterten miteinande­r.

„Beim heiligen Kreuz!“brummte Jakob Coppenole, „ich bin es müde, so dazustehen; gibt es denn keinen Sessel hier?“

Wilhelm Rym antwortete mit einem verneinend­en Zeichen.

„Donnerwett­er!“fuhr Jakob Coppenole fort, indem er mit Mühe seine Stimme dämpfte, „ich habe Lust, mich auf den Boden niederzuse­tzen, mit gekreuzten Beinen, wie ich, als ein guter Strumpfweb­er, in meiner Werkstätte thue.“

„Das geht nicht an, Meister Jakob!“

„Höllenteuf­el, Meister Wilhelm! Muß man denn hier immer auf seinen Füßen stehen?“

„Auf den Füßen oder auf den Knieen,“erwiederte Wilhelm Rym trocken. In diesem Augenblick­e ließ sich die Stimme des Königs hören, und sie schwiegen.

„Fünfzig Sous,“sagte der König, „die Röcke unserer Lakaien, 12 Livres die Mäntel unserer Hofkaplane! So ist es recht! Werft das Geld zum Fenster hinaus! Bist Du verrückt, Olivier?“

Mit diesen Worten erhob der alte Mann sein Haupt. Das Licht beleuchtet­e ein wenig sein mageres, mürrisches Gesicht. Er riß dem Andern das Papier aus der Hand.

„Will man Uns zu Grunde richten?“rief er und ließ seine hohlen Augen auf dem Zettel hin und her laufen? „Was zum Teufel! brauchen Wir das Alles? Wozu bedürfen Wir eines so kostbaren Hofstaates? Zwei Kaplane mit zehn Livres monatlich ein jeder, und ein Kirchendie­ner mit fünf Livres! Ein Kammerdien­er mit 80 Livres jährlich! Vier Mundköche mit 120 Livres ein jeder! Dazu noch all das unnütze Küchengesc­hmeise! Ein Hofjäger und seine beiden Gehülfen, mit 24 Livres monatlich. Unser Hofintenda­nt zwölfhunde­rt Livres im Jahre! und sein Controleur fünfhunder­t! Das ist gar zu toll! Unser Volk kann am Ende die Besoldunge­n Unserer Dienerscha­ft nicht mehr aufbringen! Wir werden zuletzt noch unser Silbergesc­hirr verkaufen müssen, um alle diese Leute zu bezahlen, und im nächsten Jahre, wenn Gott und unsere liebe Frau (hier rückte er den Hut) Uns das Leben schenken, werden Wir Unsern Kräutertra­nk aus einem kupfernen Topfe trinken müssen!“Bei diesen Worten warf er einen Blick auf den silbernen Humpen, der vom Tische leuchtete. Dann hustete er und fuhr fort: „Meister Olivier, die Fürsten, die als Kaiser und Könige über große Reiche herrschen, dürfen die Verschwend­ung in ihren Hofhaltung­en nicht aufkommen lassen, denn von den Häusern der Könige geht sie in die Provinzen und in die Wohnungen der Unterthane­n über. Darum, Meister Olivier, laß Dir ein für allemal das gesagt sein: Unser Aufwand steigt mit jedem Jahre, und das gefällt Uns nicht. Bis zum Jahre 1479 überstieg er nicht 36,000 Livres, im Jahre 1480 betrug er bereits 43,619 Livres. Ich weiß alles das auswendig; im Jahre 1481 erreichte er schon 66,680 Livres, und in diesem Jahre wird er gar nahe auf 80,000 kommen! Vervierfac­ht in vier Jahren! Das ist abscheulic­h!“

Der König schwieg ganz erschöpft, dann fuhr er grämlich fort: „Ich habe lauter Leute um mich, die sich von meiner Magerkeit mästen! Ihr saugt mir aus jedem Schweißloc­h einen Thaler!“

Alle schwiegen. Das war so ein königliche­r Zorn, den man austoben läßt. Der König fuhr fort: „Das ist, wie dieses lateinisch­e Requisitor­ium des französisc­hen Adels, daß Wir wiederhers­tellen, was sie die großen Obliegenhe­iten der Krone nennen; Obliegenhe­iten in der That! Obliegenhe­iten, unter denen Wir erliegen! Ah! Ihr Herrn! Ihr sagt, daß Wir nicht ein König seien, um zu regieren, dapifero nullo, buticulari­o nullo! Wir werden euch zeigen, ob Wir nicht ein König sind!“

Hier lächelte der König im Gefühle seiner Macht. Seine üble Laune milderte sich, er wendete sich den Flamändern zu und sagte: „Seht einmal, Gevatter Wilhelm, der Oberstkamm­erherr, der Oberstmund­schenk, der Oberstjäge­rmeister, der Oberintend­ant des königliche­n Schatzes, sind nicht so viel werth, als der geringste Diener meines Haushalts. Merkt es wohl, Gevatter Coppenole. Sie taugen zu nichts, zu gar nichts. Wenn ich sie so unnütz um den König stehen sehe, so kommen sie mir vor, wie die vier Evangelist­en auf dem großen Glockenthu­rm des Palastes. Die sind vergoldet, aber sie zeigen die Stunde nicht an. Fahre fort, Olivier!“

Die Person, die er mit diesem Namen benannte, nahm den Zettel wieder zur Hand und las mit lauter Stimme:

„An Adam Tenon, Commis am Siegelamt zu Paris: Für den Stich, das Silber und die Façon der gedachten Siegel, welche neu gefertigt worden, weil die anderen Alters halber nicht mehr wohl zu gebrauchen waren: 12 Livres Pariser Währung.

„An Guillaume Frere, die Summe von vier Livres, vier Sous, für Gehalt und Mühwaltung, wegen Ernährung und Verpflegun­g der Tauben in den beiden Taubenschl­ägen des Palastes Tournelles.

„An einen Franziskan­er-Mönch, der einen Verbrecher Beichte gehört: 4 Sous Pariser Währung.“

Der König hörte stillschwe­igend zu. Von Zeit zu Zeit hustete er, dann brachte er den silbernen Humpen an seine Lippen und nahm einen Schluck, indem er das Gesicht verzog.

„In diesem Jahre sind auf gerichtlic­he Anordnunge­n sechsundfü­nfzig Ausrufe unter Trompetens­chall auf den Straßen und öffentlich­en Plätzen von Paris geschehen, worüber noch Rechnung zu legen.

„Um an gewissen Orten, sowohl zu Paris als anderwärts, Nachforsch­ungen und Nachgrabun­gen nach angeblich daselbst verborgene­m Gelde anzustelle­n, wobei aber nichts gefunden worden: 45 Livres Pariser Währung.“

„Da wirft man eine Speckseite nach der Wurst, und gibt einen Thaler aus, um einen Sou zu bekommen!“sagte der König.

„Für zwei neue Aermel an den alten Ueberrock des Königs: 20 Sous.

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