Flammende Proteste in Lateinamerika
Massendemonstrationen gegen linke Despoten, soziale Ungerechtigkeiten und neoliberale Politik. Die Gründe für die Unruhen in den südamerikanischen Staaten sind vielschichtig. Ein Überblick
Bogotá Bolivien, Chile, Ecuador, Venezuela oder Nicaragua. Überall wachsen von Demonstrationen und Unruhen begleitete Konflikte. Es ist – zumindest von Europa aus gesehen – gar nicht einfach, den Überblick über den Verlauf und die Hintergründe der Machtkämpfe zu bewahren.
● Bolivien Seit zwei Wochen ist Bolivien ein anderes Land. Bei der Präsidentschaftswahl blieb dem sozialistischen Amtsinhaber Evo Morales für Beobachter überraschend eine Stichwahl erspart. Am Wahlabend hatte die Wahlbehörde zunächst eine zweite Wahlrunde in Aussicht gestellt, sich am nächsten Tag nach einem Auszählungsstopp aber korrigiert. Bei einer Stichwahl hätte der konservative Herausforderer Carlos Mesa wegen der bereits in Aussicht gestellten Unterstützung der ausgeschiedenen Mitbewerber wohl gute Chancen gehabt. Kein Wunder, dass die Opposition, die Kirche und einige NGOs sofort Verdacht schöpften: Sie sprachen von Indizien, die auf einen Wahlbetrug hindeuten, ohne aber bislang handfeste Beweise vorlegen zu können. Inzwischen hat die Opposition einen Generalstreik organisiert, es kommt immer wieder zu Auseinandersetzungen beider Lager, bei denen bislang zwei Menschen getötet wurden. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat angekündigt, das Wahlergebnis zu überprüfen und die Bevölkerung gebeten, Material einzureichen. Morales will das OAS-Ergebnis akzeptieren, erwartet aber eine „technisch-juristische“und keine „politische“Bewertung der OAS. Er wirft der Opposition vor, einen Staatsstreich zu planen. Die Opposition besteht auf Neuwahlen ohne Morales. Die Ursache für das Misstrauen eines Teils der Bolivianer liegt drei Jahre zurück: 2016 versuchte Morales mithilfe eines Referendums die Verfassung zu ändern, um die dort festgeschriebene Amtszeitbegrenzung auszuhebeln. Doch die Bolivianer sagten Nein zu einem „ewigen Evo“, trotz aller politischen Erfolge im ersten Jahrzehnt Macht. Morales brach sein Wort das Ergebnis akzeptieren zu wollen und setzte seine Kandidatur auf juristischem Wege durch.
● Chile Die Zahlen sind erschreckend: In Chile sind seit Ausbruch der Massenproteste am 17. Oktober bislang mehr als 1600 Menschen verletzt und rund 4350 Menschen verhaftet worden. Das teilte das nationale Institut für Menschenrechte mit. Die Proteste entzündeten sich an einer Fahrpreiserhöhung und weiteten sich später zu Forderungen nach einer Verfassungsänderung und einer anderen Sozialpolitik aus. Als Reaktion auf die Unruhen verzichtete Chiles konservativer Präsident Sebastián Piñera auf die für Dezember geplante Ausrichtung der Weltklimakonferenz. Also auf ein Prestigeprojekt für sein Land. Kernforderung der Protestbewegung ist eine neue Verfassung, denn die aktuelle stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur (1973 bis 1990). Auf ihrer Grundlage wurden soziale Proteste, aber auch Demonstrationen von Mapuche-Ureinwohnern als Terrorismus kriminalisiert und verboten. Jüngst erlebte Chile die größte Massendemonstration der Geschichte – rund eine Millionen Menschen gingen auf die Straße. Der Präsident Piñera sprach mit Blick auf tödliche Anschläge linksextremer Gewalttäter zunächst von einem „Krieg gegen einen mächtigen Gegner“. Zugleich gingen einzelne Sicherheitskräfte mit brutaler Gewalt gegen die Proteste vor. Inzwischen sind über 20 Todesopfer zu beklagen. Die UN soll nun klären, wer für die aufgeladene Situation verantwortlich ist. Später entschuldigte sich Piñera und lud zum Dialog ein. Er nahm eine Kabinettsumbildung vor. Die Frage ist, ob das reicht, um die Proteste zu befrieden. ● Ecuador Auch in Ecuador entzündeten sich die Proteste zunächst an einer indirekten Erhöhung des Spritpreises. Präsident Lenín Moreno hatte ein Maßnahmenpaket erlassen, das die Staatsausgaben senken sollte. Hintergrund waren Verseiner handlungen mit dem Internationalen Währungsfonds über einen Kredit in Höhe von 4,2 Milliarden US Dollar. Auf erbitterten Widerstand stieß die Streichung von Subventionen auf Benzin und Diesel, die zu dem erheblichen Preisanstieg führten. Der nationale Indigenen-Dachverband Conaie startete von verschiedenen Städten aus einen Sternmarsch in die Hauptstadt Quito. Moreno reagierte zunächst mit harter Polizeigewalt, lenkte dann aber angesichts der massiven Proteste ein. Nachdem Moreno das umstrittene Dekret zurückgenommen hatte, kehrten die Indigenen in ihre Heimatregionen zurück. Inzwischen verhandeln beide Seiten über eine Lösung des Konflikts.
● Venezuela Das sehr ölreiche Land ist seit Jahren Schauplatz von Massenprotesten gegen die sozialistische Regierung von Präsident Nicolas Maduro. Die jüngste bis heute andauernde Protestwelle begann mit der zweiten Amtszeit Maduros im Januar 2019. Bei den Wahlen 2018 setzte sich Maduro durch, nachdem die aussichtsreichsten Kandidaten der Opposition zuvor durch Inhaftierung, Exil oder Berufsverbot an der Teilnahme gehindert worden waren. NGOs haben Hinweise auf Wahlbetrug vorgelegt. Der oppositionelle Präsident des Parlaments, Juan Guaidó, ließ sich mit Verweis auf die Verfassung zum Interimspräsidenten ausrufen. Seine Begründung: Das Land stehe faktisch wegen der undemokratischen Wahlen ohne rechtmäßigen Präsidenten da. Ein Dialogversuch zwischen beiden Lagern scheiterte, es gibt lediglich ein Abkommen mit kleineren Gruppen der Opposition. Maduro ließ die Proteste mit massiver Gewalt von Sicherheitskräften und paramilitärischen Banden niederschlagen. In einem Bericht der UN-Menschenrechtskommission ist zudem von außergerichtlichen Hinrichtungen durch Polizeieinheiten die Rede. Inzwischen haben über vier Millionen Migranten und Flüchtlinge Venezuela verlassen. Bis Ende 2020
Die Opposition in Bolivien glaubt an Wahlbetrug
Millionen Menschen haben Venezuela verlassen
könnte die Zahl laut UN auf sechs Millionen steigen. Es ist wohl die größte „Abstimmung mit den Füßen“, die Lateinamerika in diesem Jahrhundert erlebt hat.
● Nicaragua Etwas aus dem Blickfeld geraten sind die andauernden Proteste gegen die linksgerichtete Regierung von Präsident Daniel Ortega und seiner Ehefrau, der Vizepräsidentin Rosario Murillo, in Nicaragua. Sie begannen im April 2018 mit Vorwürfen von Umweltschützern, Ortega habe einen Naturschutzpark abbrennen lassen, um an Land zu gelangen. Zudem gab es Proteste gegen eine Sozialreform, die Ortega aber wieder zurücknahm. Treibende Kraft der Regierungsgegner ist vor allem die Studentenbewegung. Ein Dialog zwischen beiden Lagern scheiterte. Die Machthaber setzten zur Niederschlagung der Proteste massive Polizeigewalt sowie paramilitärische Banden ein. Dabei kamen bislang mehr als 350 Menschen ums Leben. Die UN verurteilte die staatliche Gewalt scharf. Inzwischen ist der bekannte Studentenführer Lesther Alemán wieder aus dem Exil zurückgekehrt, er will die Proteste erneut aufnehmen.