Wie eine mutige Frau in einer Beduinenstadt ihren Weg geht
Unweit der modernen israelischen Metropole Tel Aviv leben Beduinen noch nach ihrem eigenen, archaischen Recht. Männer haben wie selbstverständlich mehrere Partnerinnen und ein Ehrenmord gilt als Heldentat. Wie eine 45-Jährige dagegen aufbegehrt und sich s
Rahat Elham weiß, dass die Zeit gegen sie arbeitet. Vier Kinder hat sie ihrem Mann geboren, der zugleich ihr Cousin ist. In der Welt allerdings, in der sie lebt, ist ein Ehepaar mit drei Töchtern und einem Sohn keine glückliche Großfamilie, sondern von Allah gestraft. Zu wenige Männer! Wer etwas gelten will bei den Beduinen im Negev, braucht zwei, drei oder am besten noch mehr Söhne – und deshalb drängt sein Stamm Elhams Mann nun, sich noch eine weitere Frau zu nehmen. Sie selbst kann nur hoffen, dass er so schnell keine findet – oder sich in ihr Schicksal fügen. Würde sie ihren Adnan für einen anderen Mann verlassen, sagt Elham El-Kalamat, „wäre das mein Todesurteil“.
Die 45-Jährige steht in einem schmucklosen Container, in dem sich sonst die Männer von Rahat nach der Arbeit treffen, einer Beduinenstadt am Rande der israelischen Wüste eine gute Autostunde südlich von Tel Aviv. Auf dem Boden liegen wie einst in den Zelten der Beduinen Decken und dicke Kissen, die Klimaanlage surrt, es gibt schwarzen Kaffee und dazu ein paar Datteln. Ehrenmorde mitten in Israel, dem einzigen Rechtsstaat im Nahen Osten? „Das beduinische Recht ist hier sehr dominant“, sagt Elham mit einem entschuldigenden Achselzucken. Natürlich gilt auch in Rahat das israelische Gesetz, das auf Polygamie bis zu fünf Jahre Haft vorsieht – tatsächlich jedoch leben die meisten der 300 000 Beduinen im Negev noch immer nach ihren alten, archaischen Regeln, nach denen ein Mann wie selbstverständlich mehrere Frauen haben kann, nach denen schon 14-jährige Mädchen mit ihren
Cousins verkuppelt werden und ein Ehrenmord an einer untreuen Frau kein Mord ist, sondern ein heroischer Akt, der den Stammesnamen von einer Schande reinigt.
„Mein Mann ist der Chef“, sagt selbst eine aufgeklärte Frau wie Elham, die für ein staatliches Projekt arbeitet, das mehr Beduininnen den Weg an die Universitäten ebnen soll. Sie studiert an einer Fernuniversität Politik und Verwaltungswissenschaften und verdient sich noch etwas dazu, indem sie gelegentlich Fremde durch die Stadt führt.
Doch so provozierend anders sie lebt, so selbstbewusst sie sagt, sie wolle unabhängig sein und Erfolg haben – so loyal steht sie auch zu ihrem Stamm: „Er schützt meine Kinder und mich.“Sicher fühle sie sich hier, erzählt sie, und dass in Extremfällen ein Mord an einem Stammesmitglied nur dadurch gesühnt werden könne, dass im Gegenzug die vier besten Männer des anderen Stammes getötet würden. „Und glauben Sie mir – das geschieht auch.“Die israelische Polizei ermittelt in solchen Fällen zwar, wie es auch in dieser Parallelwelt ihre Pflicht ist, aber häufig genug sind die Täter dann längst aus der Stadt geflohen oder in einem sicheren Versteck untergeschlüpft. Aufklärungsquote: keine 20 Prozent.
Wie das aussehen kann, wenn einer der 19 Beduinenstämme im Negev eine Fehde mit einem anderen führt, erlebt Faiz Abu Sahiben gerade, der Bürgermeister von Rahat. Unbekannte haben eine Handgranate auf sein Haus geworfen, einer seiner Mitarbeiter wurde auf offener Straße angeschossen – und er selbst verlässt das Rathaus nicht mehr ohne Leibwächter. „Ich muss sehr vorsichtig sein“, sagt Faiz, und dass er deshalb auch dreimal am Tag das Auto wechsle. Sein Stamm und ein anderer Stamm streiten sich um ein Stück Land – auf die Idee, deswegen ein israelisches Gericht anzurufen, aber kämen beide nicht. Wie über hunderte von Jahren, in denen die Beduinen mit Kamelen, Schafen und Ziegen durch den Negev oder das angrenzende Sinai-Gebirge zogen, regeln sie ihre Konflikte unter sich. Über allem steht der Stamm. Und über der Frau steht der Mann.
Elham versucht, diesem überholten Rollenbild zu entkommen, ohne dabei mit der Stammestradition zu brechen – eine Wanderin zwischen zwei Welten, die von sich selbst sagt, ihre Art zu leben verbinde Tradition und Moderne. Sie ist eine schwarze Beduinin, ihre Vorfahren wurden vermutlich von Beduinen aus Ghana oder Eritrea entführt und als Sklaven gehalten, ehe sie irgendwann selbst zu Beduinen wurden. So genau weiß das hier, in Rahat, niemand mehr. Und es interessiert auch niemanden wirklich.
14 Kinder, sagt Elham, habe ihre Mutter in bitterer Armut zur Welt gebracht. Umso mehr achtet die Tochter jetzt darauf, ein möglichst selbstbestimmtes Leben in einer Gesellschaft zu führen, in der Frauen das Haus lange Zeit nicht ohne ihre Männer verlassen konnten, in der Frauen bis heute kein Stück Land kaufen dürfen und viele Häuser gleich zwei Wohnzimmer haben: Ein großes, repräsentatives für den Mann und ein kleines, spartanisches für die Frau, das bezeichnenderweise oft direkt neben der Küche liegt.
Die Negev-Wüste ist mit 12000 Quadratkilometern der größte Teil Israels, gleichzeitig aber auch der am dünnsten besiedelte. Erst Ende des 19. Jahrhunderts haben die Beduinen dort begonnen, sesshaft zu werden. Viele von ihnen aber leben auch heute noch so provisorisch, als seien sie immer noch auf dem Sprung. Selbst in den Außenbezirken von Rahat, mit 70 000 Einwohnern die größte Beduinenstadt der Welt, hausen Tausende in eilends zusammengezimmerten Holzverschlägen oder Wellblechhütten.
Eine Familie bekommt hier im Schnitt fünf bis sechs Kinder – das ist eine der höchsten Geburtenraten weltweit. Bürgermeister Faiz schätzt das Durchschnittsalter in seiner Stadt auf etwa 15 Jahre, auch das eine Folge der Polygamie. Die vom Koran erlaubte Mehrfachehe, klagte vor zehn Jahren schon der damalige Sozialminister Isaac Herzog, „ist eine Epidemie, deren emotionale, wirtschaftliche und soziale Auswirkungen für die Frauen und Kinder unerträglich sind“.
Viel geändert hat sich seitdem nicht. Unter den Beduinen ist die Polygamie deutlich stärker verbreitet als in der arabisch-israelischen Bevölkerung in Jaffa oder Haifa. Nach verschiedenen Schätzungen hat jeder dritte Beduine mehr als eine Frau. Systematisch geahndet wird das von den israelischen Behörden jedoch nicht, zu trickreich umgehen viele beduinische Männer das geltende Recht, indem sie ihre Zweit-, Dritt- und Viertfrauen an den Behörden vorbei aus dem Gazastreifen, der Westbank oder dem ägyptischen Sinai ins Land holen. Andere lassen sich formell von der ersten Frau scheiden, ohne sich tatsächlich zu trennen – und sacken dann noch die Sozialhilfe ein, die die offiziell alleinstehende Mutter erhält. Widerstand: zwecklos.
Elham ist anders. Sie will sich ihren Adnan nicht mit einer anderen teilen. Als eine von wenigen Frauen in Rahat hat sie einen Führerschein, sie spricht gut englisch, und wenn sie von ihrem Studium erzählt, legt sie Wert darauf, dass ihr Mann ihr das nicht in einem seltenen Anfall von Großzügigkeit erlaubt hat. Im Gegenteil: „Ich habe es mir selbst erlaubt. Und ich habe es mir auch selbst bezahlt.“
Adnan, der ein paar Minuten zuvor in den Container gekommen ist, in dem er sonst mit seinen Kumpels oft bis Mitternacht bei Tee und Kaffee herumhockt, schaut etwas verlegen in die Runde – und sagt lieber nichts. Er ist Sanitäter von Beruf, das Geld für die Familie aber verdient zum größten Teil seine Frau. Und damit nur ja niemand auf den Gedanken kommt, sie könne das nicht, zählt Elham rasch noch auf, was sie alles angeschafft hat, ehe sie weiter muss, zum Markt: Fernseher, Mikrowelle, ein Smartphone. Zumindest technologisch ist die Beduinenfamilie El-Kalamat auf der Höhe der Zeit. „Mit meinem Geld“, stichelt Elham in Richtung Adnan, „mache ich sein Leben einfacher“.
Im Büro von Bürgermeister Faiz hängt hinter dem Schreibtisch neben den Bildern seiner neun Kinder eine riesige Karte von Rahat an der Wand. Stolz zeigt er auf die bislang größte Errungenschaft der Stadt, die Anfang der 70er Jahre von den Israelis ebenso lieblos wie schnell aus dem Boden gestampft wurde – das neue Schwimmbad, ein roter, für die örtlichen Verhältnisse nachgerade futuristischer Bau, den vier Tage in der Woche nur Männer betreten dürfen und drei Tage nur die Frauen. Dann sitzen auch an der Kasse, im Wachdienst und auf dem Stuhl des Bademeisters nur Frauen.
Für Elham aber ist es schon ein Fortschritt, dass es in einer so armen Stadt wie Rahat überhaupt ein Bad gibt. Mit der strikten Geschlechtertrennung hat sie dabei weniger Probleme, als es ihre offene, selbstbewusste Art vermuten lässt: „Wir Beduinen
„Mein Mann ist der Chef“, sagt selbst Elham
Auch Amir ist ein Wanderer zwischen den Welten
glauben daran.“Je mehr junge Frauen sich jedoch ein Vorbild an Frauen wie Elham nehmen, umso größer wird auch der Druck, etwas zu verändern in diesem patriarchalischen Mikrokosmos. Ihre 14-jährige Tochter hat Elham gerade in einen jüdischen Kibbuz geschickt, damit sie besser Hebräisch lernt, die Sprache Israels. Andere gehen zu den „Desert Stars“, einer Art Eliteschule für überdurchschnittlich begabte Beduinen.
Der 21-jährige Amir Abukaf ist einer von ihnen. Er kommt aus einer kleinen, allenfalls halblegalen Siedlung, die weder an das Stromnetz noch an die Wasserversorgung angeschlossen ist. Sein Vater hat zwei Frauen – und er insgesamt 23 Geschwister und Halbgeschwister. Englisch und Mathematik hat Amir sich als Jugendlicher weitgehend alleine beigebracht. Inzwischen studiert der Sohn zweier Analphabeten Literaturwissenschaft und Linguistik, um später einmal Lehrer zu werden. Eine Frau zu heiraten, die ihm seine Familie in beduinischer Tradition aussucht, eine seiner Cousinen gar, das komme für ihn nicht in Frage, beteuert er trotzig. „Ich glaube an die Liebe.“
Langsam, aber sicher verändert sich so etwas in Rahat und den anderen Beduinenstädten. Ein paar von Amirs Schwestern studieren ebenfalls, einer seiner Brüder ist sogar mit einer Jüdin verheiratet – für viele Beduinen lange Zeit ein Tabu. Ein Araber und eine Jüdin!
Nach der Schule war Amir fest entschlossen, nach Kanada zu gehen, um dort zu studieren. Als er dann allerdings die Tränen in den Augen seiner Mutter gesehen habe, erzählt er, habe er sich entschlossen, im Negev zu bleiben, um hier etwas zu leisten. Wie Elham ist auch er ein Wanderer zwischen den israelischen Welten – nur dass sie schon etwas konkretere Vorstellungen hat, wie die Zukunft der Beduinen im Negev aussehen könnte. Sie möchte es noch erleben, sagt die Frau, die ihrem Mann drei Töchter, aber nur einen Sohn gebar, „dass eine Frau Bürgermeisterin von Rahat wird“.