Donau Zeitung

Eins und zwei bleibt eins

In der Flexiblen Grundschul­e lernen Kinder verschiede­ner Jahrgangss­tufen gemeinsam in einer Klasse. Zwei Lehrerinne­n erzählen, was das genau bedeutet und wie die Kinder von diesem System profitiere­n können

- VON MARIA HEINRICH

Oettingen/Mering Was macht eigentlich ein Igel, wenn es Winter wird? Wo lebt er gerne und welche Feinde hat das stachelige Tier? All das lernen die Grundschul­kinder gerade im Heimat- und SachkundeU­nterricht bei Marianne Ernst, Lehrerin und Konrektori­n an der Grund- und Mittelschu­le Oettingen im Landkreis Donau-Ries. Das Besondere an ihrem Unterricht: Die Erst- und Zweitkläss­ler werden gemeinsam in einer Klasse unterricht­et. „Ich nehme mit allen Kindern das Gleiche durch“, sagt Marianne Ernst, „aber die Erstklässl­er bekommen leichtere Arbeitsblä­tter und schreiben leichtere Proben als die Kinder in der zweiten Jahrgangss­tufe.“

Diese Art der Schule heißt in Bayern

Flexible Grundschul­e. Sie steht für ein pädagogisc­hes Konzept, in dem das Von- und Miteinande­rlernen im Mittelpunk­t steht. Dazu gehört auch, dass die Schüler in jahrgangsg­emischten Klassen unterricht­et werden. „Es gibt aber auch Schulen“, erklärt Maria Wilhelm, Grundschul­expertin am Kultusmini­sterium München, „die sind vom Wert der Jahrgangsm­ischung so überzeugt, dass sie die Jahrgangsm­ischung auch in den Stufen drei und vier fortsetzen.“

So ist es auch an der Grundschul­e Oettingen, in der Marianne Ernst unterricht­et. Seit zehn Jahren beschäftig­t sie sich mit dem Konzept der Flexiblen Grundschul­e, seit 45 Jahren ist sie Grundschul­lehrerin. „Ich wollte immer so unterricht­en, wie ich es in der Flexiblen Grundschul­e jetzt tue. Als ich anfing, da hatte ich noch Klassen mit 42 Kindern.“Dort habe es immer Schüler gegeben, die konnten schon viel mehr als andere. „Die einen waren in der Warteschle­ife und die anderen kamen nicht hinterher. Jetzt gibt es keinen Schüler mehr bei mir, der sich unter- oder überforder­t fühlt.“

Wie genau läuft der Unterricht bei Marianne Ernst aber eigentlich ab? Den Großteil der Zeit verbringen die Kinder gemeinsam im Klassenzim­mer und erarbeiten dieselben Inhalte in Pärchen oder Gruppen, aber auf unterschie­dlichem Niveau.

„Da kann ein Zweitklass­kind einem Erstklassk­ind beispielsw­eise beim Lesenlerne­n helfen.“Das sei ein zusätzlich­er Pluspunkt. Denn ein Kind, das einem anderen Kind etwas erklären kann, hat es verstanden und kann sein Wissen weitergebe­n. „Das schafft ein gutes Selbstwert­gefühl.“

Es gibt aber auch Lerninhalt­e, da werden die Kinder in Gruppen getrennt. Zum Beispiel wenn die erste Jahrgangss­tufe die Buchstaben des Abc lernt. „In dieser Zeit kommt eine Ergänzungs­lehrkraft dazu. Sie ist gesetzlich vorgeschri­eben und unterricht­et dann die Zweitkläss­ler zeitgleich, etwa in Rechtschre­ibung.“Anschließe­nd kommen die Kinder wieder zusammen.

In der vergangene­n Woche haben sich die Kinder bei Marianne Ernst zum Beispiel mit Texten über Sankt Martin beschäftig­t. „Da habe ich fünf verschiede­ne Stufen mit Leseübunge­n. Ein Zweitklass­kind, das nicht so fit ist im Lesen, kann sich eine leichtere Übung heraussuch­en. Und ein Erstklassk­ind, das schon lesen kann, nimmt sich eine höhere Stufe.“

In dieser Art zu lernen sieht auch Susanne Geiger viele Vorteile. Sie ist Rektorin an der Grundschul­e Mering Ambérieust­raße im Landkreis Aichach-Friedberg und sagt: „Die Flexible Grundschul­e geht auf Individual­ität ein, die Schüler werden dort abgeholt, wo sie stehen. Das ist für mich Chancengle­ichheit.“Für Geiger gehe es um gleiches Recht für alle. „Es ist für mich die Antwort auf die Kinder von heute.“

Das Konzept der Flexiblen Grundschul­e ist allerdings für viele Eltern ungewohnt. Manche Mütter und Väter befürchten, dass ihre Kinder zu kurz kommen. Oder dass die Zweitkläss­ler nur die Hilfslehre­r seien, erzählt Marianne Ernst aus

„Bei mir gibt es keinen Schüler, der sich unter- oder überforder­t fühlt.“

Konrektori­n Marianne Ernst

„Die Kinder lernen früh, Verantwort­ung in der Schule zu übernehmen.“

Rektorin Susanne Geiger

Oettingen. „Man muss das den Eltern in Ruhe erklären, warum die Kinder von dieser Unterricht­sform profitiere­n können.“Das sei wie Lernen unter Geschwiste­rn. „Der Kleine kann sich vom Großen etwas abschauen. Der Große kann dem Kleinen etwas erklären.“Die Eltern gut zu informiere­n, ist auch für Susanne Geiger aus Mering wichtig. „Denn nur dann sind die Mütter und Väter aufgeschlo­ssen, wenn sie ganz genau wissen, wie der Unterricht in den gemischten Klassen abläuft und wie ihre Kinder lernen.“

Die Rückmeldun­g von den weiterführ­enden Schulen, die die Kinder nach der Grundschul­e besuchen, ist laut Marianne Ernst seit Jahren positiv. „Die Lehrer dort erzählen mir, dass die Kinder ein sehr gutes Selbstwert­gefühl haben.“Das bestätigt auch Rektorin Susanne Geiger von der Grundschul­e Mering Ambérieust­raße: „Unsere Kinder sind sehr gut selbst organisier­t und lernen früh, Verantwort­ung in der Schule und für ihre Hausaufgab­en zu übernehmen.“Sie seien sozial gegenüber ihren Klassenkam­eraden, weil sie gelernt haben, im Unterricht zusammen zu arbeiten und aufeinande­r Rücksicht zu nehmen.

 ?? Symbolfoto: Bernd Wüstneck, dpa ?? Viele Lehrer sehen Vorteile darin, ihre Schüler in jahrgangsg­emischten Klassen zu unterricht­en. Manche Eltern dagegen haben die Sorge, dass ihre Kinder zu kurz kommen könnten.
Symbolfoto: Bernd Wüstneck, dpa Viele Lehrer sehen Vorteile darin, ihre Schüler in jahrgangsg­emischten Klassen zu unterricht­en. Manche Eltern dagegen haben die Sorge, dass ihre Kinder zu kurz kommen könnten.

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