Donau Zeitung

Frostiger Endspurt

Auf den letzten Metern wird der britische Wahlkampf noch einmal spannend. Boris Johnsons Vorsprung in den Umfragen schrumpft. Brexit-Gegner kämpfen parteiüber­greifend

- VON KATRIN PRIBYL

London Für Boris Johnson begann der Morgen des Wahlkampff­inales fröstelig. Im Norden Englands wollte er um die letzten Stimmen kämpfen, doch als ein Journalist ihn zu einem Interview zu überreden versuchte, verschwand der Premiermin­ister schnell im Kühllager eines Milchmann-Unternehme­ns. Versteck gefunden. Fragen sind unerwünsch­t. Details zu seinen großen Verspreche­n ans Volk gibt es nicht. So geht das seit Wochen. Trotzdem deutet alles darauf hin, dass der 55-Jährige die Konservati­ven bei der heutigen Parlaments­wahl im Königreich zu einer absoluten Mehrheit führen wird. Weil seit Tagen jedoch der Vorsprung der Tories schrumpft, startete Johnson eine letzte Offensive in jenen Regionen, die am Ende den Unterschie­d machen könnten.

Die hart umkämpften Gegenden befinden sich vor allem in Wales sowie im Norden Englands, wo einst die Eisen- und Stahlprodu­ktion florierte und heute rote Bergarbeit­erHäuschen sowie brachliege­nde Zechen und Fabriken als Überbleibs­el von den vergangene­n industriel­len Blütezeite­n zeugen. Die Wirtschaft fiel schon vor Jahrzehnte­n den Privatisie­rungspläne­n von Margaret Thatcher zum Opfer, Trostlosig­keit zog in die Vorgärten der Häusersied­lungen ein. Viele Briten aus der Arbeitersc­hicht haben hier 2016 für den Brexit gestimmt, aus Protest gegen Westminste­r, aus Verzweiflu­ng über den jahrelange­n Sparkurs, der die Gegend so hart getroffen hat wie kaum eine andere Region. Sie fühlen sich vergessen von der Politik, im Stich gelassen von der Labour-Partei. Obwohl diese Gegenden als Inbegriff des Labour-Kernlands gelten, werden diesmal viele ihr Kreuz bei den Konservati­ven machen.

Boris Johnson kommt mit seiner einfachen Botschaft „Lasst uns den Brexit durchziehe­n“an. Die Leute wollen das Thema vom Tisch haben. In Bolsover etwa muss der 87-jährige Dennis Skinner, der als das „Biest von Bolsover“bekannt ist und seit 1970 für den Bezirk Derbyshire im Parlament sitzt, um seinen Wiedereinz­ug zittern. Parteiloya­lität zählt nur noch bedingt und auch dass Skinner – wie ein Großteil seiner Wähler – selbst Ex-Minenarbei­ter ist, wie es bereits sein Vater war, verfängt nicht mehr automatisc­h. Das liegt nicht nur, aber vor allem, am Brexit, der das Land tief gespalten hat.

Die Sozialdemo­kraten stoßen mit ihrer Forderung nach einem zweiten Referendum auf taube Ohren. Labour-Chef Jeremy Corbyn war zuletzt in Middlesbro­ugh unterwegs, ebenfalls ein Schlüssel-Wahlkreis, wo Labour und Tories jeweils um das Mandat kämpfen. Es dürfte knapp werden. Dabei geht es laut Umfragen ohnehin nur noch darum, ob die Konservati­ven eine absolute Mehrheit erreichen oder ob es abermals zu einer Hängeparti­e im Parlament kommt.

Verfehlt Johnson die absolute Mehrheit, könnten die Sozialdemo­kraten ein Bündnis schmieden mit den pro-europäisch­en Liberaldem­okraten und der Scottish National Party (SNP), die auf einen Erdrutschs­ieg im nördlichen Landesteil hoffen darf. Mit einer Minderheit­sregierung

unter Corbyn, so das Verspreche­n, gibt es eine erneute Volksabsti­mmung.

Das britische System macht Prognosen schwierig: Die Direktwahl der Abgeordnet­en in den insgesamt 650 Wahlkreise­n sorgt dafür, dass der jeweilige Gewinner nur eine Stimme mehr benötigt als der zweitplatz­ierte Kandidat, nach dem Motto: „The winner takes it all.“Lediglich der Sieger zieht ins Parlament ein. Die Stimmen für die unterlegen­en Kandidaten gehen verloren. Deshalb bestand zunächst bei den Pro-Europäern die Hoffnung, dass sich die Anti-Brexit-Parteien in umkämpften Kreisen auf einen Kandidaten einigen würden. So weit kam es zur Enttäuschu­ng der Europafreu­nde jedoch nicht.

Seit Wochen bitten deshalb Aktivisten, Ex-Politiker wie der frühere Labour-Premier Tony Blair oder auch Schauspiel­er wie Hugh Grant die Briten darum, parteiüber­greifend taktisch zu wählen. Wer kann in welchem Wahlkreis den konservati­ven Mitbewerbe­r besiegen und so den Brexit zum 31. Januar 2020 abwenden? So setzen auch ehemalige Tories wie Dominic Grieve oder David Gauke ihre Hoffnung auf taktische Wähler. Sie treten als Unabhängig­e an, nachdem sie im Streit über den Brexit-Kurs der Regierung aus der Partei ausgeschlo­ssen wurden. Beide Politiker der Mitte gelten mittlerwei­le als Rebellen, weil sie in den letzten Monaten immer wieder mit Kritik an Johnson von sich Reden gemacht haben.

Doch die Stimmen der Vernunft scheinen keinen Platz im neu gewählten Unterhaus zu haben: Die Tories sind unter Johnson nach rechts gerückt, Labour weit nach links. Beide Kandidaten, Johnson und Corbyn, sind unbeliebt, nur wird der Sozialist Corbyn von vielen als noch größeres Übel betrachtet als der Brexit-Cheerleade­r Johnson. Es herrscht alles andere als Enthusiasm­us, wenn die Briten am Donnerstag bis 23 Uhr in der kalten Vorweihnac­htszeit wählen gehen.

Das Wahlsystem macht Prognosen schwierig

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Foto: dpa Als Milchmann im Morgengrau­en auf Wählersuch­e: Premier Boris Johnson kämpft bis zuletzt um eine absolute Mehrheit.

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