Boris Johnson hat es jetzt eilig
Gerade ausgestattet mit einer klaren absoluten Mehrheit, holt er sich den Auftrag zur Bildung einer neuen Regierung. Bis zum Brexit-Termin bleibt nicht mehr viel Zeit. Wie dem Premier der Erdrutsch-Sieg gelang
London Die Sonne war noch nicht über dem altehrwürdigen Westminster-Palast aufgegangen, da trat Boris Johnson bei der Wahlparty der Konservativen bereits zu seiner Siegesrede an das Pult. Hinter ihm auf blauem Grund hing der neue Slogan: „The People’s Government“, die Regierung des Volks. Diese wird der Premierminister für die nächsten fünf Jahre anführen, nachdem er seiner Partei bei der Wahl am Donnerstag einen „historischen Erfolg“beschert hat. 365 der 650 Sitze im Parlament gingen an die Tories, Labour kam lediglich auf 203.
Da stand er also, der triumphierende Johnson, und wiederholte – natürlich – sein wirkungsmächtiges Motto, mit dem er in den vergangenen Wochen durch das Land gezogen ist. „Wir werden den Brexit bis zum 31. Januar durchziehen, kein Wenn, kein Aber und kein Vielleicht.“Seine Anhänger jubelten. Mit dem klaren Sieg sei ein zweites Referendum über den Austritt aus der EU nun eindeutig vom Tisch.
Schon die ersten Prognosen nach der Schließung der Wahllokale am Donnerstagabend um 22 Uhr Ortszeit deuteten auf einen Erdrutschsieg der Konservativen hin. Kurz nach halb vier am Morgen trat Boris Johnson in seinem Wahlkreis Uxbridge and South Ruislip auf die Bühne. Mit dem Premier auch alte Bekannte aus vergangenen Wahlnächten wie Elmo, der Kandidat im roten Plüschkostüm, Count Binface („Graf Tonnengesicht“) und Lord Buckethead, der mit seinem schwarzen Gewand und einem langen Kübel auf dem Kopf stets aussieht, als sei er einer Karikatur von Star Wars entsprungen.
Die satirischen Mitbewerber – ganz britischer Humor – stellen sich gerne im Wahlkreis des aktuellen Premierministers auf und sorgen für nächtliche Erheiterung. Doch Boris Johnson, sonst kaum um einen Scherz verlegen, wirkte zu aufgewühlt und erfreut ob des sich abzeichnenden Erdrutschsiegs, um seine Mitbewerber in all ihrer Pracht und Glorie zu schätzen. Schnell zog er weiter, präsentierte sich zuerst bei der Party in Westminster zur Siegesrede, um dann mit seiner Freundin Carrie Symonds in die Downing Street zurückzukehren und noch im Morgendunkel durch die berühmte Tür mit der Nummer zehn zu schreiten. Am Nachmittag holte er sich im Buckingham-Palast bei Königin Elizabeth II. formell die Erlaubnis zur Bildung einer neuen Regierung ein.
Die Sozialdemokraten müssen sich derweil unangenehmen Fragen stellen, zu ihrem Schlingerkurs beim Brexit, zum Umgang mit den Antisemitismus-Vorwürfen, zur künftigen Ausrichtung der Partei. Wollen sie weiterhin einen extrem linken Kurs fahren, auch wenn sie nun krachend verloren haben? Es ist die vierte Wahlniederlage in Folge.
Das aktuelle Ergebnis unter Corbyn spiegelt vor allem den Niedergang der Partei wider. Newcastle under Lyme, Labour-Land seit 1918 – verloren. Bishop Auckland, Labour seit 1935 – verloren. Bolsover, Labour seit 1950 – verloren. Workington, Labour seit 1918 – verloren. So liefen die Resultate in der für die Sozialdemokraten schicksalhaften Nacht ein. Das Debakel wollte kein Ende nehmen.
Labour-Chef Jeremy Corbyn kündigte als Konsequenz aus dem schlechtesten Abschneiden seiner Partei seit 1935 seinen Rückzug für Anfang nächsten Jahres an. Wer übernehmen soll, ist nicht klar. Labour liegt am Boden und der Streit darum, wer Schuld am Scheitern trägt, hat längst begonnen. Die Corbyn-Anhänger schieben die Verantwortung auf den Brexit, die Kritiker des Altlinken bezeichnen den Vorsitzenden als das Problem.
Boris Johnson hat erstmals die rote Wand durchbrochen. Zumindest gelten im Norden Englands und in den Midlands alte Wahrheiten nicht mehr. Es schien doch, als würde die Abneigung gegen die Tories und die Unterstützung für Labour im Erbgut von Generation zu Generation weitergegeben. Aber die politische Landschaft auf der Insel hat sich völlig neu ausgerichtet. Viele Menschen haben hier 2016 für den Brexit gestimmt, aus Protest gegen
Westminster, aus Verzweiflung über den jahrelangen Sparkurs, den Niedergang der Stahl- und Kohleindustrie, die Arbeitslosigkeit, die Trostlosigkeit, die Perspektivlosigkeit. Sie fühlten sich vergessen von der Politik, im Stich gelassen von Labour. Nun sollen es ihrer Meinung nach die Konservativen richten. Oder besser „Boris“, wie ihn die Menschen nennen, als sei er ein ehemaliger Bergarbeiterkumpel, einer von ihnen mit seiner direkten Art, seinen Witzen, seinen simplen Botschaften. „Ich vertraue ihm nicht, aber ich mag ihn“, galt als beliebte Antwort von Wählern auf die Frage, warum sie ihr Kreuz bei den Tories setzen wollten, wie der Politologe Tony Travers von der London School of Economics sagt.
„Interessanterweise macht die neue Wählerbasis der Konservativen einen softeren Brexit wahrscheinlicher, auch wenn das Ergebnis den EU-Austritt absolut sicherstellt“, fügt er hinzu. Insgesamt seien die Tories weitaus effektiver gewesen, die Austritt-Befürworter auf sich zu vereinen, als Labour dies schaffte bezüglich derjenigen, die lieber in der EU bleiben wollen. Diese Stimmen mussten sie sich mit den Liberaldemokraten, den Schottischen Nationalisten, den Walisischen Nationalisten und den Grünen teilen. Wobei auch die europafreundlichen Liberaldemokraten eine herbe Niederlage kassierten, Parteichefin Jo Swinson verlor gar
Verlassen die Schotten jetzt das Vereinigte Königreich?
ihren Parlamentssitz. Dabei war sie noch angetreten mit dem Wunsch, Premierministerin zu werden.
Derweil wurde hoch oben im Norden gefeiert. Während in Nordirland die Nationalisten erstmals seit der Abspaltung von Irland 1921 mehr Stimmen erhielten als die probritischen Unionisten, räumte die Scottish National Party (SNP) in Schottland regelrecht ab. 45 Prozent der Stimmen ging an die proeuropäische Regionalpartei. Damit gewann sie 48 der 59 Mandate, 13 mehr als vor zwei Jahren. Ausgestattet mit neuem Selbstbewusstsein forderte Parteichefin Nicola Sturgeon umgehend ein zweites Unabhängigkeitsreferendum. Das Parlament in Edinburgh werde schon kommende Woche Details dazu vorlegen. Johnson habe kein Recht, Schottland aus der EU zu nehmen, so Sturgeon.
England mag hinter den Konservativen stehen. Doch das Vereinigte Königreich scheint fragiler denn je.