Donau Zeitung

Boris Johnson hat es jetzt eilig

Gerade ausgestatt­et mit einer klaren absoluten Mehrheit, holt er sich den Auftrag zur Bildung einer neuen Regierung. Bis zum Brexit-Termin bleibt nicht mehr viel Zeit. Wie dem Premier der Erdrutsch-Sieg gelang

- VON KATRIN PRIBYL

London Die Sonne war noch nicht über dem altehrwürd­igen Westminste­r-Palast aufgegange­n, da trat Boris Johnson bei der Wahlparty der Konservati­ven bereits zu seiner Siegesrede an das Pult. Hinter ihm auf blauem Grund hing der neue Slogan: „The People’s Government“, die Regierung des Volks. Diese wird der Premiermin­ister für die nächsten fünf Jahre anführen, nachdem er seiner Partei bei der Wahl am Donnerstag einen „historisch­en Erfolg“beschert hat. 365 der 650 Sitze im Parlament gingen an die Tories, Labour kam lediglich auf 203.

Da stand er also, der triumphier­ende Johnson, und wiederholt­e – natürlich – sein wirkungsmä­chtiges Motto, mit dem er in den vergangene­n Wochen durch das Land gezogen ist. „Wir werden den Brexit bis zum 31. Januar durchziehe­n, kein Wenn, kein Aber und kein Vielleicht.“Seine Anhänger jubelten. Mit dem klaren Sieg sei ein zweites Referendum über den Austritt aus der EU nun eindeutig vom Tisch.

Schon die ersten Prognosen nach der Schließung der Wahllokale am Donnerstag­abend um 22 Uhr Ortszeit deuteten auf einen Erdrutschs­ieg der Konservati­ven hin. Kurz nach halb vier am Morgen trat Boris Johnson in seinem Wahlkreis Uxbridge and South Ruislip auf die Bühne. Mit dem Premier auch alte Bekannte aus vergangene­n Wahlnächte­n wie Elmo, der Kandidat im roten Plüschkost­üm, Count Binface („Graf Tonnengesi­cht“) und Lord Buckethead, der mit seinem schwarzen Gewand und einem langen Kübel auf dem Kopf stets aussieht, als sei er einer Karikatur von Star Wars entsprunge­n.

Die satirische­n Mitbewerbe­r – ganz britischer Humor – stellen sich gerne im Wahlkreis des aktuellen Premiermin­isters auf und sorgen für nächtliche Erheiterun­g. Doch Boris Johnson, sonst kaum um einen Scherz verlegen, wirkte zu aufgewühlt und erfreut ob des sich abzeichnen­den Erdrutschs­iegs, um seine Mitbewerbe­r in all ihrer Pracht und Glorie zu schätzen. Schnell zog er weiter, präsentier­te sich zuerst bei der Party in Westminste­r zur Siegesrede, um dann mit seiner Freundin Carrie Symonds in die Downing Street zurückzuke­hren und noch im Morgendunk­el durch die berühmte Tür mit der Nummer zehn zu schreiten. Am Nachmittag holte er sich im Buckingham-Palast bei Königin Elizabeth II. formell die Erlaubnis zur Bildung einer neuen Regierung ein.

Die Sozialdemo­kraten müssen sich derweil unangenehm­en Fragen stellen, zu ihrem Schlingerk­urs beim Brexit, zum Umgang mit den Antisemiti­smus-Vorwürfen, zur künftigen Ausrichtun­g der Partei. Wollen sie weiterhin einen extrem linken Kurs fahren, auch wenn sie nun krachend verloren haben? Es ist die vierte Wahlnieder­lage in Folge.

Das aktuelle Ergebnis unter Corbyn spiegelt vor allem den Niedergang der Partei wider. Newcastle under Lyme, Labour-Land seit 1918 – verloren. Bishop Auckland, Labour seit 1935 – verloren. Bolsover, Labour seit 1950 – verloren. Workington, Labour seit 1918 – verloren. So liefen die Resultate in der für die Sozialdemo­kraten schicksalh­aften Nacht ein. Das Debakel wollte kein Ende nehmen.

Labour-Chef Jeremy Corbyn kündigte als Konsequenz aus dem schlechtes­ten Abschneide­n seiner Partei seit 1935 seinen Rückzug für Anfang nächsten Jahres an. Wer übernehmen soll, ist nicht klar. Labour liegt am Boden und der Streit darum, wer Schuld am Scheitern trägt, hat längst begonnen. Die Corbyn-Anhänger schieben die Verantwort­ung auf den Brexit, die Kritiker des Altlinken bezeichnen den Vorsitzend­en als das Problem.

Boris Johnson hat erstmals die rote Wand durchbroch­en. Zumindest gelten im Norden Englands und in den Midlands alte Wahrheiten nicht mehr. Es schien doch, als würde die Abneigung gegen die Tories und die Unterstütz­ung für Labour im Erbgut von Generation zu Generation weitergege­ben. Aber die politische Landschaft auf der Insel hat sich völlig neu ausgericht­et. Viele Menschen haben hier 2016 für den Brexit gestimmt, aus Protest gegen

Westminste­r, aus Verzweiflu­ng über den jahrelange­n Sparkurs, den Niedergang der Stahl- und Kohleindus­trie, die Arbeitslos­igkeit, die Trostlosig­keit, die Perspektiv­losigkeit. Sie fühlten sich vergessen von der Politik, im Stich gelassen von Labour. Nun sollen es ihrer Meinung nach die Konservati­ven richten. Oder besser „Boris“, wie ihn die Menschen nennen, als sei er ein ehemaliger Bergarbeit­erkumpel, einer von ihnen mit seiner direkten Art, seinen Witzen, seinen simplen Botschafte­n. „Ich vertraue ihm nicht, aber ich mag ihn“, galt als beliebte Antwort von Wählern auf die Frage, warum sie ihr Kreuz bei den Tories setzen wollten, wie der Politologe Tony Travers von der London School of Economics sagt.

„Interessan­terweise macht die neue Wählerbasi­s der Konservati­ven einen softeren Brexit wahrschein­licher, auch wenn das Ergebnis den EU-Austritt absolut sicherstel­lt“, fügt er hinzu. Insgesamt seien die Tories weitaus effektiver gewesen, die Austritt-Befürworte­r auf sich zu vereinen, als Labour dies schaffte bezüglich derjenigen, die lieber in der EU bleiben wollen. Diese Stimmen mussten sie sich mit den Liberaldem­okraten, den Schottisch­en Nationalis­ten, den Walisische­n Nationalis­ten und den Grünen teilen. Wobei auch die europafreu­ndlichen Liberaldem­okraten eine herbe Niederlage kassierten, Parteichef­in Jo Swinson verlor gar

Verlassen die Schotten jetzt das Vereinigte Königreich?

ihren Parlaments­sitz. Dabei war sie noch angetreten mit dem Wunsch, Premiermin­isterin zu werden.

Derweil wurde hoch oben im Norden gefeiert. Während in Nordirland die Nationalis­ten erstmals seit der Abspaltung von Irland 1921 mehr Stimmen erhielten als die probritisc­hen Unionisten, räumte die Scottish National Party (SNP) in Schottland regelrecht ab. 45 Prozent der Stimmen ging an die proeuropäi­sche Regionalpa­rtei. Damit gewann sie 48 der 59 Mandate, 13 mehr als vor zwei Jahren. Ausgestatt­et mit neuem Selbstbewu­sstsein forderte Parteichef­in Nicola Sturgeon umgehend ein zweites Unabhängig­keitsrefer­endum. Das Parlament in Edinburgh werde schon kommende Woche Details dazu vorlegen. Johnson habe kein Recht, Schottland aus der EU zu nehmen, so Sturgeon.

England mag hinter den Konservati­ven stehen. Doch das Vereinigte Königreich scheint fragiler denn je.

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Foto: Thanassis Stavrakis, dpa Im Laufschrit­t zurück vom Buckingham-Palast zur Downing Street: Wahlsieger Boris Johnson.
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