„Gewalt hat keinen Platz in unserer Mitte“
Gewalttat Die Prügelattacke am Königsplatz, bei der ein 49-Jähriger ums Leben kam, hat viele Menschen in Augsburg geschockt. Und sie hat Fragen aufgeworfen: Wie sicher ist der Platz? Kann man sich bei Nacht noch dorthin trauen? Unterwegs mit denen, die es wissen müssen
Augsburg Genau eine Woche nach dem tödlichen Schlag spielt am Augsburger Königsplatz ein Trommler. Hunderte Grabkerzen werfen ihr Licht auf ihn, dazu die Leuchtreklame der Fast-Food-Kette am Rand des Platzes. Kurz nach halb elf Uhr abends, exakt zu der Zeit, als ein Faustschlag aus einer Gruppe von sieben Jugendlichen den Familienvater aus Neusäß niederstreckte, werden die Trommelschläge immer langsamer, verstummen schließlich ganz. Das ist schwer zu ertragen, nur der Wind macht noch ein Geräusch. Die Augsburger Bürgerstiftung „Beherzte Menschen“hat zu einer Gedenkminute für den getöteten Feuerwehrmann eingeladen. Ihr Vorsitzender Lothar Roser steht am Rand des Kreises aus etwa 30 Menschen, die an diesem Freitagabend Wind und Regen trotzen. „Eine Woche, nachdem die Tat passiert ist, wollten wir noch einmal Menschen herholen, um zu erleben, wie es um diese Uhrzeit am Königsplatz ist“, sagt er später.
Es ist die Frage, die seit dem vergangenen Wochenende viele umtreibt: Geht es am Königsplatz um diese Zeit tatsächlich so gefährlich zu? Kann ich mich abends überhaupt noch dorthin wagen?
Simon und Tommaso müssen es wissen. Ihre Nachnamen sind nicht wichtig, sagen die beiden. Ihre Uniform spreche für sich, finden sie: dicker blauer Overall, Handschuhe und Handschellen am Gürtel, ein EC-Karten-Lesegerät an der Brusttasche, das Wappen der Stadt Augsburg am Ärmel. Schon weit vor der Gedenkminute sind sie am Königsplatz im Einsatz. Für den Ordnungsdienst der Stadt laufen sie mit zwei weiteren Kollegen jeden Abend im Augsburger Zentrum Streife.
Außer den Menschen, die schon vor der Gedenkminute am Tatort stehen bleiben – ob aus Neugier oder um wirklich zu trauern –, ist bisher nicht viel los. „Der Wind, der Regen“, sagt Simon und deutet Richtung Himmel. Außerdem sei es im Winter natürlich ruhiger in der Stadt als in den Sommermonaten. Ein Mann trägt einen Christbaum auf seiner Schulter vorbei, alle paar Minuten entlässt eine Straßenbahn am Augsburger Gleisdreieck Menschengrüppchen in die Sturmböen. In den kleinen Park gleich neben den Gleisen treibt es die wenigsten. Tagsüber treffen sich an den Bänken rund um den Thormann-Brunnen häufig Gruppen junger Asylbewerber, Biertrinker sitzen herum und pinkeln auch gerne mal ohne Scham gegen Bäume. Um diese Zeit aber trotzen nur ein paar verlassene Glühwein-Buden dem Wind. Lange galt der Kö, wie ihn die Augsburger nennen, als Hauptumschlagplatz für Drogen in der Stadt. Es ist kein Ort, an dem man lange bleiben will. Aber sollte man ihn deswegen komplett meiden?
Es stimmt schon: Die Polizeistatistik weist den Königsplatz klar als Kriminalitätsschwerpunkt aus. Deswegen habe man im Dezember 2018 die stationäre Videoüberwachung gestartet, sagt Michael Jakob, Sprecher beim Polizeipräsidium Schwaben-Nord. Bei der Zahl der sogenannten Rohheitsdelikte – das sind Straftaten wie Raub und Körperverletzung – führt der Königsplatz die Rangliste an. 86 solcher Einsätze waren es zwischen Januar und September 2019. Manche spuken für ein paar Tage in den Köpfen der Augsburger herum, doch kurz darauf erinnert sich nur noch das Zeitungsarchiv: An das Pärchen etwa, das im Frühjahr einen Juwelier in der Innenstadt überfiel und mit allerhand Goldketten über den Königsplatz floh. Oder an den
Mann, der unter Drogen Polizeibeamte attackierte und sich bei der Festnahme wehrte wie wild.
Und dann gibt es diesen Fall von Anfang des Jahres, der einem jetzt mehr denn je den Atem stocken lässt: Drei Männer greifen in einer Februarnacht einen 23-Jährigen an. Sie schlagen ihn zu Boden, treten auf ihn ein. Dann fliehen sie zu Fuß. Erschreckende Parallelen – mit dem Unterschied, dass das Opfer damals nur leicht verletzt wird. Kaum ein Medium schreibt darüber. Kein hasserfüllter Mob hetzt im Internet gegen Täter mit Migrationshintergrund.
Doch diesmal ist das Opfer tot. Seine Familie, seine Freunde nehmen am Samstag mit einem Gedenkgottesdienst Abschied von dem 49-Jährigen, der am letzten Abend seines Lebens ein paar nette Stunden auf dem Christkindlesmarkt verbrachte. Der Mann, der bei der Berufsfeuerwehr tätig war, hatte dienstfrei. Sein Helm, zerkratzt von vielen Einsätzen, liegt beim Trauergottesdienst auf einem roten Tuch vor dem Altar der Neusässer Kirche. Kameraden aus Augsburg und aus dem Landkreis gedenken des Vaters einer Tochter nach dem Gottesdienst mit einem Ehrenspalier. Der Augsburger Oberbürgermeister Kurt Gribl sagt, ganz in Schwarz und sichtlich bewegt: „Eine solche Tat hätte in unserer zivilisierten Gesellschaft niemals passieren dürfen – es muss Grundkonsens sein, dass Gewalt keinen Platz in unserer Mitte hat.“
Unsere Mitte. Geografisch betrachtet ist das für viele Augsburger der Kö. Hier kreuzen sich alle Straßenbahnlinien, verbinden sternförmig die Viertel. Wer in der Innenstadt etwas zu erledigen hat, kommt ziemlich wahrscheinlich hier vorbei. Um den Platz in der Augsburger Mitte so sicher wie möglich zu machen, patrouillieren auch eine Woche nach der Tat insgesamt zehn Ordnungskräfte in der Innenstadt, regelmäßig fährt eine Polizeistreife in Schrittgeschwindigkeit vorbei – in diesen Tagen noch ein wenig öfter als sonst.
Königsplatz, Christkindlesmarkt, Elias-Holl-Platz hinter dem Rathaus, Maximilianstraße und wieder zurück: Mindestens einmal in der Stunde laufen Simon und Tommaso vom städtischen Ordnungsdienst auf ihrer Tour an diesen Orten vorbei. „Sonst sind wir oft die Spielverderber“, sagt Tommaso. „Aber in diesen Tagen kommen mehr Leute auf uns zu und sagen: ,Gut, dass ihr da seid.“Eines wollen sie unbedingt betonen: „Natürlich gibt es hier mal Streitereien oder Diskussionen. Schlägereien sind selten.“
Mittlerweile sind die beiden vor dem Rathaus angekommen. Der
Christkindlesmarkt hat schon zu, die letzten Verkäufer leeren Putzwasser aus den Glühweinkesseln in einen Gully. Und im Internet stoßen immer noch vermeintlich besorgte Bürger ihre Hasstiraden und Spekulationen aus.
Natürlich gibt es Fragen, die man stellen kann: Waren die jugendlichen Schläger betrunken? Macht der Alkohol an den Buden die Leute aggressiver? Ist die Gewalt vor dem Fest der Liebe also besonders groß? Michael Jakob vom Polizeipräsidium verneint es: „Ein Anstieg der Sicherheitsstörungen während der Christkindlesmarktzeit ist bislang nicht zu erkennen.“Auch an diesem Abend ist alles ruhig, der Ordnungsdienst zieht weiter zum EliasHoll-Platz, der im Jahr 2018 zum neuen Brennpunkt Augsburgs zu werden drohte. Anwohner fühlten sich vor allem nach Einbruch der Dunkelheit von pöbelnden Jugendgruppen drangsaliert. Die Stadt setzt seitdem zwei „Nachtmanager“ ein, die Anwohnern zuhören, mit den Jugendlichen sprechen – nicht von oben herab, eher wie Kumpels, natürlich in Zivil. „Viel besser“sei es seitdem geworden, sagt Simon. Heute ertappen er und seine Kollegen nur einen Wildpinkler an der Rathausmauer. 50 Euro Ordnungsgeld macht das. Der Mann lacht etwas nervös und peinlich berührt, zieht den Geldbeutel aus der Hosentasche. Doch die Möglichkeiten des Ordnungsdienstes sind begrenzt. Überführen die Sicherheitsleute einen Drogendealer oder stoßen auf eine Schlägerei, müssen sie die Polizei rufen.
Die Ordnungshüter dokumentieren jeden Einsatz. Die Kriminalstatistik hilft herauszufinden, wie gefährlich der Königsplatz wirklich ist. Bis September registrierten die Beamten zwar etwas mehr Einsätze als 2018. Damals waren es 212, heute sind es 253: 61 Rauschgiftdelikte, 38 Beleidigungen, 86 Rohheitsdelikte. Doch das heißt nicht automatisch, dass der Kö gefährlicher geworden ist.
Für die richtige Interpretation braucht es Hintergrundwissen. Polizeisprecher Michael Jakob hat es. Der Anstieg der Fallzahlen sei zu einem erheblichen Teil „auf die intensive Kontrolltätigkeit der Polizei zurückzuführen“, erklärt er. Je mehr die Polizei kontrolliert, desto mehr Straftaten stellt sie natürlich fest. Und der Königsplatz als zentraler Ort der Stadt, wo jeden Tag Zehntausende vorbeikommen, ist natürlich ein Schwerpunkt bei den Kontrollen.
Außerdem spielen sich viele Straftaten in einem abgeschlossenen Milieu ab. Jede vierte Straftat am Kö hat etwa mit Drogen zu tun. Dealer und Konsumenten wollen aber nicht auffallen, werden sich also hüten, Passanten in ihre Geschäfte hineinzuziehen.
Ein weiterer Grund, weswegen die Kriminalitätsrate auf dem Papier steigt, ist die Videoüberwachung. Seit einem Jahr wird der Platz rund um die Uhr von Kameras gefilmt: „Durch die Aufnahmen konnte das Dunkelfeld deutlich aufgehellt werden“, sagt Jakob. Konkret heißt das: Körperverletzungen etwa, die 2019 auf Video gebannt wurden, wären ohne die Kameras niemandem aufgefallen. Jetzt fließen sie in die Statistik ein – können aber auch geahndet werden.
Im Vergleich zu 2017, als die Polizei noch 323 Mal zum Kö ausrückte, sind die Straftaten um mehr als 20 Prozent zurückgegangen. Auch sonst gilt Augsburg als eine der sichersten Städte Deutschlands. Für Polizeisprecher Michael Jakob bleibt deswegen nur ein Fazit: „In Augsburg gibt es keine ,No-go-Areas‘. Es ist nicht nötig, den Königsplatz zu meiden.“
Draußen im Regen ziehen die Mitarbeiter des Ordnungsdienstes ein paar junge Radfahrer in ihren dünnen Party-Outfits aus dem Verkehr, die kein Licht haben. Harmlos. „Nach 22 Uhr sind fast nur noch Jugendliche in der Innenstadt unterwegs“, sagt Tommaso. Aber nicht heute.
Am Königsplatz beginnt jetzt der Trommler zu spielen. AEV-Fans in Trikots bleiben auf dem Weg vom Stadion an der Gedenkstätte für den toten Neusässer stehen, Paare auf dem Weg zur Straßenbahn, Jugendliche. Die Organisatoren des Gedenkens hoffen, dass die Stadt sich jetzt beruhigt. „Denn Trauer“, sagt einer von ihnen, „hat auch etwas mit Ruhe zu tun.“
„In diesen Tagen kommen mehr Leute auf uns zu und sagen: Gut, dass ihr da seid.“Mitarbeiter des Ordnungsdienstes