Donau Zeitung

„So ein Fall kann überall passieren“

In Dillingen stirbt ein Dreijährig­er. Seine Familie wurde bereits vom Jugendamt betreut. Ist die tragische Geschichte eine Ausnahme oder liegt der Fehler im System?

- VON SARAH RITSCHEL

Augsburg Ein Fall wie der mysteriöse Tod eines Dreijährig­en in Dillingen kann überall passieren: Diese traurige Erkenntnis muss man ziehen, wenn man in diesen Tagen mit den Leitern schwäbisch­er Jugendämte­r spricht. Der Junge, der offenbar aus einer verwahrlos­ten Familie stammte, starb Ende Oktober in einer Klinik an seinen lebensbedr­ohlichen Verletzung­en. Das Dillinger Jugendamt hatte die Familie nicht auf dem Schirm, obwohl das Landratsam­t schon Monate vorher Hinweise hatte, dass es bei den Eltern daheim nicht mit rechten Dingen zugeht. Die Familie war vor ihrem Umzug nach Dillingen in Halle an der Saale schon vom Jugendamt betreut worden – allerdings wurde diese Informatio­n nie ans Dillinger Jugendamt übermittel­t.

Natürlich wird der Fall auch in anderen Jugendämte­rn in ganz Bayern diskutiert. Adelbert Singer, Leiter der Behörde in Donauwörth, nimmt seine Kollegen aus Halle in Schutz. Denn die Betreuung der Familie endete deren Angaben zufolge

Wenn eine Familie umzieht, wird die Sache komplizier­t

schon im Jahr 2017. „Um beim Umzug einer Familie einen Fall an das neue Jugendamt weiterzuge­ben, braucht man eine aktuelle Gefährdung­ssituation – anders ist eine Übergabe nach den gesetzlich­en Regelungen gar nicht erlaubt.“Man könne eine Familie nicht über viele Jahre, unter Umständen bis zur Volljährig­keit der Kinder kontrollie­ren, nur weil sie einmal vom Jugendamt betreut wurde. Singer nennt einen Vergleich aus der Justiz: „Bewährungs­strafen bei Straftaten verfallen auch nach der Bewährungs­frist. Wir können unsere betreuten Familien nicht ihr Leben lang unter Generalver­dacht stellen.“

Bayernweit nahmen die Jugendämte­r im Jahr 2018 laut Landesamt für Statistik 2210 Mal Kinder und Jugendlich­e zu ihrer eigenen Sicherheit aus den Familien. Im Jahr zuvor waren es noch 2723 Fälle gewesen. Deutschlan­dweit zeigt sich trotz der Abnahme eine bedenklich­e Entwicklun­g: Um ein Viertel angestiege­n sind 2018 die Schutzmaßn­ahmen wegen Kindesmiss­handlung.

Um diese aufzudecke­n, sind die Jugendämte­r vor allem auf Hinweise aus der Bevölkerun­g angewiesen. In manchen Fällen sind aufmerksam­e Beobachter besonders wichtig, erklärt Hannes Neumeier, Leiter des Jugendamte­s im Landkreis Augsburg. Der Dreijährig­e in Dillingen etwa habe nie eine Kita besucht. „Ist eine Familie über keine Institutio­n greifbar, entsteht ein Vakuum, das wir nicht kontrollie­ren können,“sagt er. Dann sei das Jugendamt „umso mehr auf Hinweise aus der Nachbarsch­aft angewiesen“. Neumeier betont aber, dass es zuletzt stetig Verbesseru­ngen beim Kinderschu­tz gegeben habe. Das Bundeskind­erschutzge­setz wurde besonders im Jahr 2006 nachgeschä­rft. Grund war ein Mord in Bremen, der als „der Fall Kevin“in die Kriminalge­schichte einging. Der Zweijährig­e war damals von seinem drogensüch­tigen Vater misshandel­t, getötet und wochenlang im Kühlschran­k versteckt worden. In all der Zeit war das Jugendamt für den Jungen zuständig gewesen, doch weder die Mitarbeite­r noch andere mit der Familie befasste Behörden hatten den Fall richtig eingeschät­zt. Seitdem ist die Kommunikat­ionskette zwischen einzelnen Behörden genau geregelt.

Beim Tod des Dreijährig­en in Dillingen hatte es innerhalb des Landratsam­tes eine Kommunikat­ionspanne gegeben. Im Juli hatte sich eine Anwohnerin beim Veterinära­mt beschwert, sie höre immer wieder die Hunde der Familie bellen, ohne die Tiere je draußen zu sehen. Die Frau erwähnte explizit, dass im selben Haus auch Kinder eingesperr­t seien. Die Behördenmi­tarbeiteri­n bat die Nachbarin, auch das Jugendamt zu informiere­n – was diese aber nie tat. Auch die Beamtin gab die Informatio­n nicht weiter.

Um solche Pannen gar nicht erst entstehen zu lassen, wurde bundesweit das Sicherheit­ssystem „Frühe Hilfen“ausgebaut – auch in Dillingen. Schon in Geburtskli­niken sprechen Sozialpäda­goginnen jede Frau an und erklären, dass sie sich beim Jugendamt Hilfe holen kann, wenn es einmal nötig wird. Jugendämte­r stellen Familienhe­bammen ein, die Mütter in den ersten Monaten begleiten, wenn sie mit ihrem Kind offensicht­lich nicht zurechtkom­men. Es gibt Aufklärung­sveranstal­tungen an Schulen und mehrere Familienst­ützpunkte in jedem Landkreis.

Und doch: Ganz sicher wird das System wohl nie sein. Gerade Fälle, in denen eine Familie in der Vergangenh­eit betreut wurde, am Ende aber wieder auf dem richtigen Weg schien, könnten „einen immer wieder einholen“, sagt der Donau-Rieser Jugendamts­leiter Singer – und sagt es eben ganz ausdrückli­ch: „Ein Fall wie in Dillingen kann überall passieren. Ein Restrisiko bleibt.“Um das zu minimieren, fordert sein Kollege aus dem Kreis Augsburg weitere Verbesseru­ngen: „Ganz wichtig ist eine gute Verbindung zum medizinisc­hen System. Ärzte müssen gut darin geschult sein, Misshandlu­ngen bei Kindern zu erkennen. Das bayerische Gesundheit­sministeri­um bietet dazu in einem Pilotversu­ch Online-Schulungen an. Aber dieses Wissen muss auch Teil der Ausbildung der Ärzte werden.“

Und er wünscht sich ein Umdenken bei den Leuten: „Die Gesellscha­ft sollte sich bewusst sein, dass es kein Makel ist, sich Hilfe beim Jugendamt zu holen. 90 Prozent der Eltern sind froh, wenn wir auf sie zukommen.“

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Foto: Patrick Pleul, dpa 2018 ist die Zahl der Schutzmaßn­ahmen wegen Kindesmiss­handlung um ein Viertel gestiegen.

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