Donau Zeitung

Kann uns die Vernunft retten?

In Debatten über Demokratie, Klima und Digitalisi­erung wird der Ruf nach vernünftig­en Lösungen laut – von allen Seiten. Zeit, auf die Mahner zu hören! Vor 75 Jahren schrieben Horkheimer und Adorno die „Dialektik der Aufklärung“

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Wo ist die denn, die Vernunft, für die die großen Aufklärung­sdenker den Menschen doch begabt gehalten haben? Zeigt sie sich etwa bei den Verhandlun­gen der UN-Klimakonfe­renz? Oder bei dem Wahltriump­h von Brexit-Boris Johnson in Großbritan­nien? Zeigt sie sich in den täglichen Tweets des Präsidente­n der Vereinigte­n Staaten von Amerika oder in den deutschlan­dweiten Reaktionen auf das zufällige Zusammenfa­llen der Wörter Feuerwehrm­ann, Christkind­lesmarkt, Migrations­hintergrun­d bei einem Todesfall in Augsburg? Zeigt sich die Vernunftbe­gabung in der Entwicklun­g perfekter Überwachun­gssysteme wie in China oder im Trend zum E-Scooter auch in hiesigen Städten?

Es kann angesichts all dessen jedenfalls nicht verwundern, dass prominente Stimmen in Büchern immer wieder mahnen und fordern: Soll die Zukunft noch gelingen, brauchen wir eine neue Aufklärung, wir müssen endlich vernünftig werden. Nur zum Beispiel: der nordamerik­anische Psychologe Steven Pinker in „Aufklärung jetzt! – Für Vernunft, Wissenscha­ft, Humanismus und Fortschrit­t“; der israelisch­e Historiker Yuval Noah Harari in „Homo Deus“zur Bewahrung des Menschlich­en gegen die Künstliche Intelligen­z; der englische Pädagoge Paul Mason in „Klare, lichte Zukunft“mit einem Plädoyer für einen neuen Humanismus“; die Politologi­n Ulrike Guérot demnächst mit „Begräbnis der Aufklärung?“, Untertitel: „Zur Umcodierun­g von Demokratie und Freiheit im Zeitalter der digitalen Nicht-Nachhaltig­keit“; der Philosoph Michael Hampe mit „Die Dritte Aufklärung“, in der er fordert, es bräuchte eine „Steigerung der allgemeine­n Bildung, „um sich nicht durch Mythen über neue Intensität­en verführen zu lassen“. Lebenssinn ohne Illusionen von „Entscheidu­ngsschlach­ten“.

Durch Bildung zur Besinnung also. Aber zugleich sagen US-Psychologe­n: Höhere Bildung führt nicht zu besseren, zur Vernunft bekehrten Menschen – sondern nur zu besseren Argumenten für die gleiche Meinung und Haltung, die man aus seiner Prägung ohnehin entwickelt hat. Auch die AfD beschwört ja das klassisch aufkläreri­sche Motiv des mündigen Bürgers, der nach ihrer Lesart frei von der „herrschend­en“Meinung seine eigene bilden solle. Und: Ist Greta Thunberg die Stimme der Vernunft?

Kein Wunder, dass in so komplizier­ten wie prekären Zeiten trotz der generell sinkenden Leselust der Sachbuchma­rkt wächst und gegentlich­keit

Orientieru­ng ist gefragt. Auch der Philosoph Jürgen Habermas fordert aktuell in seinem letzten Großwerk („Auch eine Geschichte der Philosophi­e“): einen Diskurs auf der Basis rationaler Argumente, um gemeinsam vernünftig zu werden. Dabei sollte man vielleicht gerade bei all dieser Aufklärung­sbeschwöru­ng für eine gelingende Zukunft auf ein Standard-Werk von Habermas’ einstigen Lehrern hinweisen. Vor jetzt 75 Jahren nämlich vollendete­n die beiden jüdischstä­mmigen Deutschen im Exil in Kalifornie­n ihre „Dialektik der Aufklärung“. Auch wenn 1944 freilich im Angesicht des Zweiten Weltkriegs Holocaust verfasst – diese bei den 68ern geradezu zum Kult gewordene Sammlung aus Essays, Exkursen und Entwürfen kann gerade heute noch klarmachen: Die Krisen sind womöglich nicht nur nicht durch eine Besinnung zur Vernunft zu lösen – sie sind wesentlich erst durch die Aufklärung entstanden.

In mindestens drei Belangen wirkt jene „Dialektik“als die unweigerli­che Schattense­ite der Aufklärung gegenwärti­g. Sie knüpfen an Marx und Freud an, behandeln Homer und den Marquis de Sade und schaffen gerade kein System, sondern immer wieder neu ansetzende Abhandlung­en voller wuchtiger Gedanken zum Befund: Die Erzählung vom vernunftbe­gabten Menschen hat eine ursprüngli­che Verbindung aufgelöst – „Das Programm der Aufklärung war die Entzauberu­ng der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.“Doch unversehen­s ist sie darüber selbst zum zerstöreri­schen Mythos geworden. Horkheimer/Adorno schreiben: „Die vollends aufgeklärt­e Erde strahlt im Zeichen triumphale­n Unheils.“Und verstehen wir das heute nicht unmittelba­r als eine erste gegenwärti­ge Schattense­ite?

Die Philosophe­n erklärten: „Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivit­ät. Die Menschen bezahlen die Vermehrung der Macht mit der Entfremdun­g von dem, worüber sie Macht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulier­en kann.“In der Konsequenz, das ist der zweite hochaktuel­le Belang, wird auch die Masse der Menschen zum Objekt der Rationalis­ierung – durch die Technik.

Was bei Horkheimer/Adorno als die heraufdämm­ernde Herrschaft des „verrechnet­en Denkens“tönt, ist uns heute in den Algorithme­n längst gegenwärti­g: „Denken verdinglic­ht sich zu einem selbsttäti­g ablaufende­n, automatisc­hen Prozess, der Maschine nacheifern­d, die er selbst hervorbrin­gt, damit sie ihn schließlic­h ersetzen kann.“Nach der entzaubert­en Natur entsteht der in seinen Vorlieben für den Konsum ausles- und sinnlich reizbare Menschappa­rat: „Die intimsten Reaktionen der Menschen sind ihnen selbst gegenüber so vollkommen verdinglic­ht, dass die Idee des ihnen Eigentümli­chen nur in äußerster Abstrakthe­it noch fortbesteh­t: personalit­y bedeutet ihnen kaum mehr etwas anderes als blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschw­eiß und Emotionen.“

Weil die Aufklärung aber selbst Mythos ist, eine „falsche Klarheit“also, in der der Mensch in seiner Eiwinnt. nicht vorkommt, bleibt ein Rest, der aufbegehrt. Es entsteht innerer Selbsthass, der, um ausgelebt werden zu können, nach Projektion ins Äußere verlangt. Was dereinst die Juden traf, auch befeuert von Reizen bedienende­n Nachrichte­n den Antisemiti­smus schürte. Das ist der dritte aktuelle Belang, Selbstbeha­uptung durch Entwürdigu­ng anderer. Und als gesellscha­ftliche wie menschlich­e Dynamik gilt in der „Dialektik der Aufklärung“: „Der Fluch des unaufhalts­amen Fortschrit­ts ist die unaufhalts­ame Regression“– im Voranstürz­en verkümmert der Mensch und wünscht sich zurück. So gebiert die Aufklärung durch ihre unwillkürl­iche Schattense­ite auch Naturzerst­örung und Unmenschli­chkeit, Fremdenhas­s und Nationalis­mus…

Vorsicht also bei der Beschwörun­g der Aufklärung zur Rettung. Denn ihre Nachtseite gebiert die Ungeheuer der Zivilisati­on. Und wer meint, zum Zweck aufgeklärt­en Handelns mit Verboten zur Vernunft zu zwingen oder auf die Rationalit­ät von Fakten in Diskursen zu setzen, der lese nach, was Vernunft wirklich meint: Sie ist kein Herrschaft­sinstrumen­t, sondern ein Prozess der „Selbstbesi­nnung“.

 ??  ?? Das legendäre Autoren-Duo, abstrahier­t von einem Foto im Jahr 1964 (von links): Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno (1903–1969).
Illustrati­on: Mauritius
Das legendäre Autoren-Duo, abstrahier­t von einem Foto im Jahr 1964 (von links): Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno (1903–1969). Illustrati­on: Mauritius
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