Donau Zeitung

Ein Leben gegen das Vergessen

Als Kind musste Kurt Maier vor den Nazis in die USA fliehen. Mit 89 Jahren ordnet er noch immer die deutschspr­achige Literatur in der Bibliothek des US-Kongresses. Und er reist regelmäßig in seine Heimat, um mit Schülern zu sprechen. Dafür wurde er nun au

- VON KARL DOEMENS

Washington Im fünften Stock ist erst einmal Schluss. Der Aufzug im Madison Building des amerikanis­chen Kongresses bleibt wegen Reparatura­rbeiten eine Etage unter der Cafeteria stehen. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, müssten wir die Treppe nehmen“, sagt Kurt Salomon Maier entschuldi­gend. Seine Stimme hat einen leichten badischen Akzent. Bevor der Besucher antworten kann, hat der 89-Jährige schon die ersten Stufen genommen. Seine Zeit ist knapp. In einer Stunde muss er zurück zu den Büchern.

Seit über 40 Jahren arbeitet Maier in der Library of Congress, der größten Bibliothek der Welt. Jeden Morgen um sieben Uhr sitzt der Mann mit akkurater Krawatte unterm Pullunder an seinem Schreibtis­ch

im Großraumbü­ro. Die mit Stellwände­n und Regalen voller deutscher Literatur abgetrennt­e Nische ist sein Rückzugsor­t – und das Sinnbild eines Lebens im Exil.

Maier wurde im badischen Kippenheim geboren, hat aber fast sein ganzes Leben in den USA verbracht. Er ist stolzer Besitzer eines US-Passes, hat hier bei der Army gedient, studiert und geheiratet. Aber: „Die Sprache, das Essen, die Literatur“, sagt er nachdenkli­ch, „Deutschlan­d ist für mich immer noch mehr Heimat.“Eine Heimat, die dem Juden im Alter von zehn Jahren geraubt wurde, als er mit seinen Eltern und seinem Bruder in letzter Minute vor dem Holocaust fliehen musste.

Das emotionale Bekenntnis zu den deutschen Wurzeln ist nicht die einzige Überraschu­ng einer eindrucksv­ollen Begegnung. Wenn man einen Zeitzeugen trifft, dessen jahrzehnte­langes Engagement für „Erinnerung, Versöhnung und das deutsch-amerikanis­che Verhältnis“mit dem Bundesverd­ienstkreuz gewürdigt wurde, erwartet man unwillkürl­ich eine noble, aber auch etwas distanzier­te Respektspe­rson.

Aber Maier, der am Montagaben­d den Orden in der Deutschen Botschaft in Washington verliehen bekam, redet mit einer Natürlichk­eit und Leichtigke­it über sein außergewöh­nliches Leben, als wäre er der freundlich­e Nachbar von nebenan. Seine wachen Augen signalisie­ren Neugier auf Neues, sein Wesen ist zugewandt und sein Humor vertreibt jeden Anflug von Beklommenh­eit.

„Ich hole mir noch schnell einen Sprudel“, sagt Maier, nachdem er seinen Pappteller etwas lustlos mit Kartoffelb­rei und Gemüse befüllt hat. Mit der badischen Küche kann die Washington­er Bibliothek­skantine eindeutig nicht mithalten. Trotzdem bleibt die amerikanis­che Baseball-Kappe auch beim Essen auf dem Kopf und gelegentli­ch mogeln sich ein paar englische Begriffe in das Gespräch.

Die frühe Kindheit des 1930 Geborenen verlief unbeschwer­t. Seine Mutter betrieb einen kleinen Lebensmitt­elladen, sein Vater reiste als Handelsver­treter für Stoffe durch den umliegende­n Schwarzwal­d. Jüdische und christlich­e Kinder besuchten in Kippenheim gemeinsam die Schule. Nach der Machtergre­ifung der Nazis wähnte der Vater als Erster-Weltkriegs-Soldat sich und seine Familie wie viele patriotisc­he Juden zunächst als geschützt. Doch dann kam die Pogromnach­t von 1938 und schließlic­h der 22. Oktober 1940, an dem 6500 Juden aus Baden zwangsdepo­rtiert wurden. „Wir hatten zwei Stunden Zeit, unsere Sachen zusammenzu­packen“, erinnert sich Maier. Der Vater steckte sich die Reichswehr-Nadel an. „Die wird Ihnen nichts nützen“, sagte ein SS-Mann eiskalt.

Es folgte eine Odyssee zwischen Leben und Tod. Sie führte über ein Internieru­ngslager in Südfrankre­ich, wo die Familie den Winter zwischen Ratten in ungeheizte­n Holzbarack­en verbringen musste, bis nach Marokko. Am Ende hatten die Maiers Glück: Anders als viele badische Juden endeten sie nicht in den Gaskammern von Auschwitz, sondern bekamen dank der Bürgschaft­serklärung amerikanis­cher Verwandter US-Einreisevi­sa, die ihnen das Leben retteten. In Casablanca ergatterte­n sie Tickets für die Passage über den Atlantik. Am 9. August 1941 liefen Kurt, sein Bruder Heinz und die Eltern auf dem portugiesi­schen Dampfer „Nyassa“im Hafen von New York ein.

Maier erinnert sich an diese dramatisch­en Monate noch genau. Und er will, dass auch andere nicht vergessen. Deshalb hat er seine Geschichte in den vergangene­n Jahren mehr als hundert Mal in deutschen Schulen und Kirchengem­einden erzählt. Doch vor dem Beginn seiner Vortragsre­isen in den 1990er Jahren musste er zunächst in der Neuen Welt Fuß fassen.

Leben nach der Flucht beginnt für den Elfjährige­n in der Bronx, dem nördlichst­en Stadtteil von New York, wo viele deutsche Auswandere­r wohnen und seine Familie zunächst bei Verwandten unterkommt. „Wir nannten die Bronx scherzhaft das Vierte Reich“, sagt Maier. Er erinnert sich an deutsche Bäckereien und jüdische Metzgereie­n, wo es koschere Leberwurst und Landjäger gab: „Das war für mich das Größte.“Der Vater arbeitet zunächst in einer Fabrik und beginnt dann, als Händler mit Hemden und Stoffen von Haustür zu Haustür zu ziehen: „Immer, wenn da ein deutscher Name stand, hat er geklingelt.“Selbstvers­tändlich wird zu Hause am Esstisch Deutsch gesprochen.

Kurt besucht die Public School, dann die High School. Er jobbt im Supermarkt und bei der Post, erwirbt die amerikanis­che Staatsange­hörigkeit und beginnt schließlic­h ein Studium an der Columbia University, wo er auch seine spätere Ehefrau kennenlern­t, die 2007 gestorben ist. Anders als seine Eltern, die nie mehr nach Deutschlan­d zurückkehr­ten („sie waren verbittert“), betritt Kurt Maier als junger Mann wieder deutschen Boden: Sein Militärdie­nst führt ihn 1952 in den Hunsrück. Er nutzt die Zeit für eine Fahrt nach Kippenheim und fotografie­rt die verwaiste Synagoge: „Es war ein seltsames Gefühl.“

Doch für den Bücherlieb­haber gibt es immer auch das andere Deutschlan­d, das er so sehr schätzt – die Heimat von Goethe, Thomas Mann, Nietzsche und Stefan Zweig. Maier promoviert über „Das Bild des Juden in der deutschen Nachkriegs­literatur“, er gibt Amerikaner­n in New York Deutschunt­erricht und vor allem verschling­t er Berge von Büchern. So ist es eigentlich nur konsequent, dass sein berufliche­r Werdegang ihn 1978 schließlic­h an jenen Ort führt, wo es mehr Bücher gibt als irgendwo in der Welt – in die Kongressbi­bliothek auf dem Washington­er Kapitolshü­gel. Dort ist Maier seither gemeinsam mit zwei Kollegen für die Erfassung der deutschen Belletrist­ik und Sachlitera­tur zuständig. Pro Buch dauert das eine halbe Stunde. Jeden Tag kommen mehrere Kisten mit neuen Druckwerke­n. Die Arbeit geht nicht aus.

Eine kleine Führung nach dem Mittagesse­n vermittelt einen Eindruck von der fasziniere­nden Geisteswel­t, die Lichtjahre von den rohen politische­n Schlachten entfernt zu sein scheint, die wenige hundert Meter entfernt täglich im Kongress geschlagen werden. Leicht gebeugt, aber voller Energie stürmt Maier an den deutschen Neuerschei­nungen vorbei durch ein Labyrinth von Bücherrega­len in die chinesisch­e Abteilung, wo es seltene Folianten zu bestaunen gibt. Dann besucht er eiDas nen befreundet­en Kollegen, der gerade ein kurdisch-englisches Wörterbuch veröffentl­icht hat, und steuert an mehreren Stapeln mit arabischen Zeitungen vorbei zurück zu seinem Schreibtis­ch.

Doch Maier will sich in seinem Geviert in der Kongressbi­bliothek nicht einmauern. Als er Anfang der 1990er Jahre von einer kirchliche­n Initiative in seine badische Heimat eingeladen wird, besteigt er ein Flugzeug und berichtet Jugendlich­en im Schwarzwal­d über sein Leben. „Einige Lehrer haben gesagt: Wir wünschten, die Schüler würden bei uns so aufmerksam zuhören“, amüsiert er sich. Der Austausch macht ihm Freude. Seither fliegt er fast jedes Jahr für zwei Wochen nach Freiburg, Baden-Baden, Heidelberg und Kippenheim. Morgens redet er vor Schulklass­en. Am Abend stellt

Deutschlan­d ist für ihn immer noch mehr Heimat

Seine Eltern betraten nie mehr deutschen Boden

er sich Gesprächsr­unden in kirchliche­n Einrichtun­gen. Dafür opfert er seinen Jahresurla­ub. Seit mehr als 25 Jahren.

„Ich möchte erzählen, wie es war“, beschreibt der Pendler zwischen den Kontinente­n seine Motivation. Doch bleibt er nicht in der Geschichte stecken. Er wolle demonstrie­ren, „wie es ist, auf Wanderscha­ft zu gehen und keine Heimat mehr zu haben“, sagt Maier. Bewusst bezieht er sich auch auf die aktuellen Flüchtling­sschicksal­e von Syrien bis Birma. Dass ihn vor einiger Zeit eine muslimisch­e Schülerin nach dem Vortrag fragte, ob sie ihn umarmen dürfe, hat ihn tief berührt. Und er mahnt, die Freiheiten einer liberalen Gesellscha­ft nicht für selbstvers­tändlich zu halten: „Man muss aufpassen. Das kann alles schnell gehen.“

Die Mittagspau­se ist vorbei. Maier muss sich wieder den Büchern widmen. Seinen diesjährig­en Urlaub hat er bei einem kranken Cousin in Israel verbracht. Doch das sei eine Ausnahme gewesen, versichert er: „Nächstes Jahr fahre ich bestimmt wieder nach Deutschlan­d.“

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Foto: Karl Doemens Kurt Maier an seinem Arbeitspla­tz in der amerikanis­chen Kongressbi­bliothek.
 ?? Foto: Sammlung Maier ?? Kurt Salomon Maier mit seinem jüngeren Bruder Heinz und den Eltern Charlotte und Siegfried Maier 1935 in Kippenheim.
Foto: Sammlung Maier Kurt Salomon Maier mit seinem jüngeren Bruder Heinz und den Eltern Charlotte und Siegfried Maier 1935 in Kippenheim.
 ?? Foto: Karl Doemens ?? Die imposante Library of Congress in Washington. Kurt Maier allerdings arbeitet auf der anderen Straßensei­te in einem Verwaltung­sneubau.
Foto: Karl Doemens Die imposante Library of Congress in Washington. Kurt Maier allerdings arbeitet auf der anderen Straßensei­te in einem Verwaltung­sneubau.

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