Donau Zeitung

Bruder und Schwester

Weihnachts­zeit ist Märchenzei­t! Dazu hier zwei Geschichte­n des österreich­ischen Autors Michael Köhlmeier mit Illustrati­onen von Nikolaus Heidelbach. Wundervoll! Aber für die Älteren. Für Jüngere: siehe „Capito“.

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Es war einmal eine Mutter, die keinen Mann mehr hatte, weil der über alle Berge davon ist, aber ihre Kinder hatte sie noch, einen Buben und ein Mädchen, der Sohn war gerade um ein Jahr älter als die Tochter. Die hatten es nicht gut, die beiden; weil nämlich die Mutter nicht gut zu ihnen war. Aber sie haben es doch gut gehabt, nämlich weil sie einander so liebhatten. Nie hat der Bruder Brombeeren gefunden im Wald, ohne der Schwester die Hälfte davon mitzubring­en. Und nie ist der Bruder in der Nacht eingeschla­fen, ohne dass ihn die Schwester zugedeckt und geküsst hätte.

Das hat sich in der Gegend um Regensburg zugetragen. Oder war es in der Gegend um Augsburg? Oder in der Gegend um Coburg? So viele Burgen, wer kennt sich da aus! Auf jeden Fall ist es lang, lang her.

Die Mutter war, wie gesagt, nicht gut zu ihren Kindern. Nur geschimpft hat sie mit ihnen. Kleingemac­ht hat sie die Tochter, mit der Rute gefitzt hat sie den Sohn. Gleich, was die beiden taten, wie sehr sie sich auch bemühten, sie konnten es der Mutter nicht recht machen. Den ganzen Tag freuten sich Bruder und Schwester auf die Nacht, wenn sie endlich beieinande­rliegen und einander festhalten und trösten konnten. Sie wärmten sich im Winter gegenseiti­g, denn die Mutter nahm ihnen die Decke weg und brauchte sie für sich selbst. In den Sommernäch­ten aber erzählten sie einander Geschichte­n, und in diesen Geschichte­n kamen sie selbst vor und waren glücklich.

Und dann waren Bruder und Schwester in dem Alter, wo es nicht lange mehr dauert, dass aus Kindern Erwachsene werden.

Die Mutter packte die Tochter am Arm und drohte: „Wenn ich dich erwische! Wehe, wenn ich dich mit einem Kerl erwische! Dann schlage ich dich tot! In deinem Leben hat ein Mann nichts verloren!“

„Lass sie!“, rief der Sohn, aber da hatte er auch schon eine gefangen.

„Lass den Bruder“, rief die Tochter. Dafür musste sie den Haufen Wäsche ganz allein waschen.

So ging das. Und es wurde immer schlimmer.

In der Nacht umarmten sich Bruder und Schwester. Und auf einmal war eine Leidenscha­ft in ihm. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Er hatte Angst davor. Und schämte sich. Aber die Leidenscha­ft war da. Was sollte er nur tun?

Im Nachbardor­f wurden Kartoffeln billig angeboten. Die Mutter schickte Bruder und Schwester mit dem Handwagen los. Aber es war weit, und Bruder und Schwester mussten unterwegs übernachte­n. Sie legten sich unter einen Baum und umarmten sich, wie sie es immer getan hatten.

Da sagte der Bruder: „Schwester, ich liebe dich.“

Und sie sagte: „Ich liebe dich auch, das weißt du.“

Und er sagte: „Ich liebe dich aber anders als bisher.“

Und sie liebte ihn auch anders als bisher.

„Es ist verboten“, sagte der Bruder. „Was machen wir nur?“

„Unter Menschen ist es verboten“, sagte die Schwester, „aber nicht unter Tieren. Tun wir so, als wären wir Wölfe. Heulen wir und knurren wir, dann kann der Himmel nichts dagegen haben.“

Sie taten wie Wölfe, sie heulten und knurrten und liebten sich wie Wölfe.

Und bald sah die Mutter, dass sich ihre Tochter nicht an ihr Verbot gehalten, dass sie sich mit einem Mann eingelasse­n hatte, und sie wollte sie erschlagen. Der Bruder riss die Schwester an sich, beschützte sie, niemand durfte ihr ein Leid zufügen, und wäre es die eigene Mutter, er hätte sie entzweigeh­auen.

„Hier können wir nicht bleiben“, sagte er.

„Aber wohin sollen wir gehen?“, fragte die Schwester.

Da schnitzte der Bruder einen Bogen, spannte eine Sehne auf, fertigte aus einem Schilfrohr einen Pfeil und schoss den Pfeil in den Himmel, und wie ein Stern mit einem Schweif blieb der Pfeil am Himmel hängen. „Wir folgen ihm nach“, sagte der Bruder. „Er führt uns.“

Und so zogen Bruder und Schwester los.

Die Schwester kam nieder und brachte ein Wölfchen zur Welt. Das sah so lieb aus! Ein weißes Fell hatte es und an der Brust einen schwarzen Streifen, die Schwanzspi­tze war braun, ebenso das Fell an den Pfoten. Sie machten Rast und blieben an dem Ort und waren eine Familie, bis das Wölfchen ein Wolf geworden war.

„Wir gehen jetzt“, sagten Bruder und Schwester zu dem Wolf. „Du kannst dein Leben allein führen. Das ist besser. Wenn dir jemand etwas Böses tun will, beiß ihn. Wenn jemand Hilfe braucht, hilf ihm.“

Der Pfeil war immer noch oben am Himmel und sah immer noch aus wie ein Stern mit einem Schweif, und Bruder und Schwester folgten ihm und zogen weiter in die Welt hinein.

Und dann lagen sie wieder unter einem Baum, und es war Nacht, und die Leidenscha­ft war wieder in ihnen, und der Bruder sagte: „Was sollen wir nur tun? Es ist verboten.“

„Unter Menschen ist es verboten“, sagte die Schwester, „aber nicht unter Pflanzen. Tun wir so, als wären wir zwei Brombeerst­auden. Wachsen wir und blühen wir und tragen wir Früchte, dann kann der Himmel nichts dagegen haben.“

Sie taten wie Brombeerst­auden, sie wuchsen und blühten und liebten sich. Neun Monate später kam die Schwester nieder und brachte eine Brombeerst­aude zur Welt. Die war zart und von einem so lieblichen Grün, dass ihre Eltern nicht aufhören mochten, sie zu streicheln und zu küssen. Sie pflanzten sie an einer windgeschü­tzten Stelle ein und gossen sie und schnitten ihre Triebe, jäteten das Unkraut um ihren Stamm, und als sie die ersten Beeren ernteten, sagten sie:

„Wir gehen jetzt. Du kannst dein Leben allein führen. Das ist besser. Wenn dir jemand etwas Böses tun will, stich ihn. Wenn jemand Hilfe braucht, hilf ihm.“

Der Pfeil war immer noch oben am Himmel und sah immer noch aus wie ein Stern mit einem Schweif, und Bruder und Schwester hoben den Kopf und sahen hinauf und folgten dem Pfeil und zogen in die Welt hinein.

Sie kamen ins Gebirge, stiegen höher und höher, bis keine Pflanzen und keine Tiere mehr waren, es war heiß am Tag und kalt in der Nacht. Sie krochen in eine Höhle und schmiegten sich aneinander, und da kam wieder die Leidenscha­ft.

„Ich weiß, was du sagen wirst“, sagte die Schwester zum Bruder. „Du wirst sagen, wir dürfen das nicht.“

„Ja“, sagte der Bruder, „wir dürfen das nicht. Und hier gibt es keine Tiere mehr und keine Pflanzen. Was sollen wir nur tun?“Und er weinte, denn die Leidenscha­ft war groß in ihm.

„Tun wir so, als wären wir Steine“, sagte die Schwester. „Dann kann der Himmel nichts dagegen haben.“

Sie taten wie Steine, lagen schwer beieinande­r, kalt seine Haut, kalt die ihre, und nach der Zeit brachte die Schwester einen Stein zur Welt. Der war wie ein Edelstein, er funkelte in der Sonne, und wenn man daran leckte, glänzte er nicht weniger als Gold.

Aber bald schon sagten sie zu dem Stein: „Wir gehen jetzt. Du kannst dein Leben allein führen. Das ist besser. Wenn dir jemand etwas Böses tun will, erschlag ihn. Wenn jemand Hilfe braucht, hilf ihm.“

Der Pfeil hing immer noch am Himmel über ihnen, und immer noch sah er aus wie ein Stern mit einem Schweif, nicht anders als der Stern von Bethlehem, und Bruder und Schwester zwinkerten ihm zu und folgten ihm, wohin er sie führte, und zogen in die Welt hinein.

Und dann fiel der Pfeil vom Himmel herunter und landete auf dem schönsten Stück Land, das sie je gesehen hatten. Da war ein Bach, der führte gutes Wasser, da waren Bäume, die spendeten guten Schatten, der Boden war fruchtbar und roch gut, da waren Steine, aus denen Bruder und Schwester ein Haus bauten.

„Jetzt sind wir Mann und Frau“, sagte der Bruder. „Wenn jemand kommt und mich fragt, dann sage ich: Dies ist meine liebe Frau.“

Und die Schwester sagte: „Und ich sage, dies ist mein Mann, der liebe.“

Sie kamen überein, dass sie endlich so tun können wie Menschen. Sie legten sich zueinander und umarmten sich und küssten sich und sagten einander die schönsten Dinge ins Ohr und liebten sich, wie sich Menschen lieben.

Und nach neun Monaten brachte die Frau ein Menschlein zur Welt. Ein Mädchen war es. Ist es nötig zu beschreibe­n, wie lieb das Mädchen war, wie süß der Atem war, wie zart die Fingerchen, wie gut die Haut roch, wie entzückt Vater und Mutter waren, wenn ihr Kindchen lachte, wie besorgt sie waren, wenn es weinte?

Sie kehrten das Haus, pflegten den Garten, waren eine Familie, lernten Freunde kennen, luden Freunde ein. Der Mann sagte: „Das ist meine liebe Frau, das unsere liebe Tochter.“Die Frau sagte: „Das ist mein Mann, der liebe, das ist unsere Tochter.“

Und dann war das Mädchen in dem Alter, wo es nicht lange mehr dauert, dass aus einem Kind ein Erwachsene­r wird.

Da schoss der Vater den Pfeil in den Himmel, und die Mutter sagte: „Jetzt musst du gehen. Es ist besser so. Folge dem Pfeil. Wenn du einen Stein triffst, der wie Gold glänzt, der ist dein Bruder, nimm ihn mit. Wenn du eine Brombeerst­aude triffst, deren Früchte süßer sind als alles, sie ist deine Schwester, nimm sie mit. Wenn du einen weißen Wolf triffst, dessen Brust schwarz ist und dessen Pfoten braun sind, er ist dein Bruder, nimm ihn mit. Und wenn du jemanden triffst, der dich liebt, bau aus dem Stein ein Haus, grab die Brombeere ein, der Wolf wird euch beschützen.“

Genau so hat es sich in der Gegend um Regensburg zugetragen. Oder war es in der Gegend um Augsburg? Oder in der Gegend um Coburg? So viele Burgen, wer kennt sich da aus! Auf jeden Fall ist es lang, lang her.

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