Gefahr in den eigenen vier Wänden
Die Coronakrise ist eine Extremsituation. Das Leben vieler Menschen spielt sich fast nur noch zu Hause ab. Experten befürchten nun, dass Frauen und Kinder zu leichten Opfern werden
Augsburg Die Welt ist klein geworden, ist zusammengeschnurrt auf wenige Quadratmeter. Seit in Bayern strenge Ausgangsbeschränkungen gelten, um die Corona-Welle auszubremsen, spielt sich das Leben fast nur noch in der Wohnung ab. Das schützt die Menschen vor einer Ansteckung – birgt aber auch Gefahren. Die Coronakrise könnte, das befürchten immer mehr Experten, die häusliche Gewalt massiv ansteigen lassen. Die Opfer: vor allem Frauen und Kinder.
Das ungewohnte enge Zusammensein, die Sorgen um die eigene Gesundheit oder den Job, der fehlende Kontakt zu anderen – all das kann problematisch werden, sagt Alexandra Schreiner-Hirsch, Pädagogische Leitung im Landesverband Bayern des Kinderschutzbundes. „Extremsituationen wie diese haben immer Auswirkungen, Stress kann zu Aggressionen führen.“Vor allem Kinder von Familien seien gefährdet, in denen es schon im normalen Alltag Probleme gebe. Die derzeitige Isolation könne sich nun zusätzlich negativ auswirken.
Warum brennen bei manchen Menschen die Sicherungen durch? Es komme sehr stark auf den Umgang mit den eigenen Gefühlen an, sagt die Expertin. Viele Menschen hätten sich Strategien zurechtgelegt, was sie bei Stress tun können – etwa sich mit Freunden treffen oder ins Fitnessstudio gehen. Weil das derzeit aber nicht möglich ist, gebe es andere Ventile für derlei negative Gefühle. Und im schlimmsten Fall ist so ein Ventil Gewalt. „Die Situation kann sich jetzt verschlimmern“, sagt Schreiner-Hirsch. Deswegen seien Hilfsangebote besonders wichtig.
Nur: Auch die bayerischen Jugendämter kämpfen mit den Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie. Hausbesuche finden meist nur noch bei akuter Notlage statt. Der Kontakt zu den Familien wird per Telefon oder E-Mail gehalten, Routinebesuche werden verschoben oder abgesagt. Einer Sprecherin des Jugendamtes München zufolge gibt es aktuell keine langfristigen Vermittlungen. „In den Fällen, in denen eine Inobhutnahme wegen einer Kindeswohlgefährdung nötig ist, werden die Kinder in die Bereitschaftspflege professioneller Pädagogen aufgenommen“, erklärt sie.
Seit vergangener Woche sei es außerdem vermehrt vorgekommen, dass Familien die Gefahr einer Ansteckung als Vorwand nutzen würden, um den Besuch der Mitarbeiter des Jugendamtes zu verhindern. In solchen Fällen werde nur bei einer möglichen Kindeswohlgefährdung eingegriffen, heißt es vonseiten des Jugendamtes.
Die aktuelle Entwicklung bereitet dem Amt in der Landeshauptstadt Sorgen. Sozialreferentin Dorothee Schiwy macht deutlich: „Wir gehen davon aus, dass die Fälle häuslicher Gewalt deutlich ansteigen werden, je länger die Ausgangsbeschränkungen bestehen bleiben.“
Die derzeitige Situation betrifft neben Kindern vor allem Frauen. Durch die mangelnde Bewegungsfreiheit könne die Situation – vor allem in bereits gewalttätigen Partnerschaften – eskalieren, sagt Margit Berndl, Vorstand des Paritätischen Wohlfahrtsverbands in Bayern. Sie betont, dass es im Freistaat ein gut funktionierendes Unterstützungssystem gebe. Frauenhäuser und Beratungsstellen arbeiteten trotz der Einschränkungen und seien telefonisch erreichbar. „Es ist unbedingt nötig, dass die Politik diese unverzichtbaren Schutz- und Beratungsangebote für Frauen und Kinder im Blick hat und dafür sorgt, dass sie in der aktuellen Krise finanziell weiterhin abgesichert bleiben“, betont Berndl.
Bereits in den vergangenen Jahren hat sich die Situation für viele Frauen immer mehr verschlechtert. Das belegt die Statistik, die hinter den Schicksalen steht: Dem Bundeskriminalamt zufolge ist die Zahl der Opfer von Gewalttaten in Partnerschaften zwischen 2014 und 2018 um 11,5 Prozent gestiegen.
Da es die Ausgangsbeschränkungen erst seit dem vergangenen Wochenende gibt, könne man noch nicht sagen, ob es deshalb nun mehr Fälle von häuslicher Gewalt gebe, erklärt Sabine Rochel, Opferschutzbeauftragte beim Polizeipräsidium Schwaben Nord. Erst in etwa zwei Wochen könne man sehen, ob es tatsächlich Auswirkungen gibt. Im Moment sei es ohnehin so, dass die Menschen vor allem damit beschäftigt seien, ihren Alltag zu bewältigen. „Sie müssen erst einmal ihr Leben organisieren. Das steht nun im Vordergrund“, sagt Rochel. Wenn wieder einigermaßen Normalität herrsche, müsse man sehen, ob das viele Zuhausesein eine Steigerung der Gewalt als Folge habe.
Auch die Bundesregierung in Berlin befasst sich mit dem Thema. Isolation und finanzielle Sorgen könnten zu mehr häuslicher Gewalt führen, sagte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey am Dienstag im ZDF-Morgenmagazin. Umso wichtiger sei es für Opfer zu wissen, dass sie das Haus verlassen dürfen, um sich Hilfe zu holen. Das sei ein triftiger Grund. Telefonische HilfeHotlines würden angesichts der Corona-Pandemie ausgebaut, sagte die Ministerin. Arme Familien oder solche mit krassen Einkommenseinbrüchen könnten zudem ab 1. April einen Zuschlag zum Kindergeld bekommen. Vorgesehen seien bis zu 185 Euro im Monat. „Das bedeutet, dass die finanziellen Sorgen ein großes Stück abgefedert werden.“
Wie wichtig es ist, das Thema im Blick zu haben, zeigt übrigens der Blick nach China. Dort hat die Isolation Spuren hinterlassen. Die Pekinger Frauenrechtsorganisation „Weiping“meldete mehreren Medienberichten zufolge, dass die Zahl der Beschwerden von Opfern häuslicher Gewalt dreimal so hoch sei wie vor der Coronakrise.
OHilfe gibt es zum Beispiel telefonisch bei den Ehe-/Familien- und Erziehungsberatungsstellen vor Ort. Kinder können sich an die „Nummer gegen Kummer“wenden: 116 111.