Erst beim näheren Hinsehen erkannten wir meinen Cousin Karl
Erika Bartmann-Oelze, Augsburg Fünf Tage vor meinem sechsten Geburtstag sagte meine Mutter zu mir: „Der Krieg ist aus“. So richtig verstanden habe ich das nicht, da ich nichts anderes als den Krieg kannte, doch ich dachte, dass wir jetzt wohl nicht mehr in den Keller müssten, weil es ja jetzt keine Bomben mehr gab.
Einige Tage später fuhren Amerikaner mit offenen Lastwagen durch unser Viertel Oberhausen Die Leute standen vor ihren Häusern oder was davon noch übrig war und sahen zu den Lastwagen hoch, auf denen gefangene deutsche Soldaten hockten, ganz ausgemergelt und mit verzweifelten Gesichtern, da ja niemand wusste, was jetzt mit ihnen geschehen würde. Sie baten von den Fahrzeugen um Essen und Trinken. Meine Mutter rannte in unsere Wohnung und holte drei Laib Brot und füllte alte Glasflaschen mit Wasser und Zitronenbrause. Sie versuchte, Brot und Flaschen den Soldaten zuzuwerfen, doch einiges landete zwischen den Wagen. Vielleicht dachte Mutter dabei an meinen Vater, über dessen Schicksal wir nichts wussten und der erst vier Jahre später aus russischer Kriegsgefangenschaft wiederkommen sollte.
Ein paar Tage später verbreitete sich wie ein Lauffeuer die Nachricht, dass auf dem Bahndamm zwei Waggons mit Kohlen standen. Meine Mutter packte zwei Eimer und rannte den Bahndamm hoch, ich hinterher. Auf mein einziges Mäntelchen aus weißem Stallhasenfell nahm ich dabei keine Rücksicht. Mit den Händen half ich, die Eimer zu füllen. Ergebnis: vier Eimer Kohlen und ein nicht mehr tragbares Mäntelchen.
Eines Nachts wachten meine Mutter und ich auf, weil Steine gegen das Fenster, oder was davon noch übrig war, geworfen wurden. Unten auf der Straße stand eine zerlumpte Gestalt, die wir erst bei näherem Hinsehen als meinen Cousin Karl erkannten. Er war damals gerade sechzehn Jahre alt. In den letzten Kriegsmonaten war er noch als Flakhelfer nach Ostdeutschland geschickt worden. In dem Durcheinander angesichts der vorrückenden Roten Armee gelang es Karl und einem Kameraden zu türmen. Die beiden schlugen sich nachts durch die Wälder und versteckten sich tagsüber. Er sah schlimm aus und wollte so nicht zu seiner Mutter nach Lechhausen.
Meine Mutter feuerte den Ofen an und schlug ein paar Eier in eine Pfanne, dann schleppte sie unsere Zinkbadewanne, die in einer Garage lagerte, in den ersten Stock hoch und machte Wasser in einem Topf warm, dass sie dann in die Wanne füllte. Karl saß derweil mit mir auf dem Küchensofa. Nach dem Bad bekam er Zivilkleidung meines Vaters. Am nächsten Morgen ist er dann zu seiner Mutter gegangen.