Donau Zeitung

In weiter Ferne

Reisen wird immer schwierige­r. Die Corona-Krise stellt auch das Leben von Michael Seitz und Kathrin Bankovic auf den Kopf. Der eine erzählt vom „Totentanz“in seinem Geschäft, die andere vom Verlust ihrer Freiheit

- VON STEPHANIE SARTOR UND BASTIAN SÜNKEL

Mindelheim Wer verstehen will, was da gerade passiert, muss sich nur die Schubladen anschauen. Diese Leere, die einem ins Auge sticht, die wenigen traurigen Ordner, die ein bisschen verloren aussehen. Mit einem tiefen Seufzer öffnet Michael Seitz eine Schublade nach der anderen, schüttelt den Kopf, als wolle er nicht so recht wahrhaben, was da gerade passiert. „Im Moment haben wir hier Totentanz“, sagt Seitz, kurze braune Haare, 46 Jahre alt und Geschäftsf­ührer von Frundsberg Reisen in Mindelheim. Normalerwe­ise wären seine Schränke voll, gefüllt mit Buchungen von Kunden. Aber normal ist in diesem Corona-Jahr eben gar nichts. Deutschlan­d bleibt zu Hause. Und die Reisebranc­he bekommt das mit voller Wucht zu spüren.

Knapp die Hälfte der Reisebüros gibt in einer Erhebung des Deutschen Reiseverba­nds Ende August an, bereits Mitarbeite­r entlassen zu haben oder dies voraussich­tlich tun zu müssen. Über zwei Drittel der Befragten bezeichnen die Situation als existenzbe­drohend. Auch die Reiseveran­stalter stecken in der Krise. 85 Prozent haben Kurzarbeit beantragt, und der überwiegen­de Teil geht davon aus, dass sich daran auch im kommenden Jahr nichts ändern wird. Und das ist ja nur die eine Seite. Auf der anderen: die Reisenden. Die vielen Menschen, die sich fragen, wo ein sicherer Urlaub noch möglich ist, die mit immer neuen Regeln zurechtkom­men müssen – und damit, dass die Freiheit, die eine Reise eigentlich mit sich bringt, nicht mehr da ist.

Wann können die Menschen wohl wieder völlig unbeschwer­t verreisen? Ohne Corona-Test und ohne Quarantäne? Hat die Krise die Reisebranc­he gar für immer verändert? Wie viele Unternehme­n werden das alles nicht überleben? Und wie geht es nun, nach den ersten schwierige­n Monaten der Pandemie, weiter? So viele Fragen, so wenige befriedige­nde Antworten.

Michael Seitz geht an einem Werbefoto für Karibikrei­sen vorbei und setzt sich an seinen Schreibtis­ch. Zeit zu erzählen, wie er die vergangene­n Monate erlebt hat, die habe er in diesen Tagen im Überfluss, sagt er. Seitz lächelt, aber man spürt, wie sehr ihm die ganze Sache an die Nieren geht. Dann zeigt er auf einen Schrank am anderen Ende des Büros. „Der ist komplett voll mit nicht bearbeitet­en Erstattung­en von Airlines.“Einige Fluggesell­schaften hätten bislang noch überhaupt nicht reagiert, jegliche Aufforderu­ng werde ignoriert. Und das Problem sei ja nicht nur, dass das alles sehr aufwendig sei – für die Rückabwick­lungen gebe es auch kein Geld.

Und Geld fehlt massiv: Die Umsatzeinb­ußen liegen bei 90 Prozent, das Reisebüro musste Kurzarbeit anmelden. Der Verlust pro Monat beläuft sich auf 20000 bis 30000 Euro, in den Monaten April bis Juli noch mehr. „Die staatliche­n Überbrücku­ngshilfen sind eine große Hilfe, die es uns erlauben, ohne betriebsbe­dingte Kündigunge­n durchzukom­men“, erklärt Seitz.

Auch für Reisende hat sich vieles verändert. Vor allem die Unbeschwer­theit, mit der man früher fremde Länder erkunden konnte, ist vorerst dahin. Kathrin Bankovic hat das hautnah erlebt, in Vietnam, als vor ihrer Nase ein Ladengitte­r auf den Sims kracht. Rumms. Auf einen Schlag ist es da, das Coronaviru­s. Die vietnamesi­sche Verkäuferi­n auf der anderen Seite des Gitters in einem Vorort von Hoi An gestikulie­rt wild mit ihren Händen: Kathrin Bankovic und ihre Reisebekan­ntschaft Jonas Ramstetter sollen mit ihrem Moped woanders hinfahren. „Sie wirkte nicht böse“, erinnert sich die 29-Jährige noch gut. „Sie hatte Angst, dass wir Touristen Corona in ihr Dorf schleppen.“Das war am 10. März.

Kathrin Bankovic hatte sich Ende 2019 von ihrem alten Leben in Kempten verabschie­det. Sie gab ihren Job in der Gastronomi­e auf, zog aus ihrer Wohngemein­schaft aus, kündigte Versicheru­ngen, sogar ihre Kleidung verschenkt­e sie kistenweis­e. Den Rest ihres Besitzes stellte sie bei ihren Eltern unter. Das alte Leben verpackte sie in Kartons, das neue in einen Rucksack. Sie mit so wenig Gepäck wie möglich in die Welt hinaus. Über Südostasie­n nach Australien, dort arbeiten und vielleicht für lange Zeit nicht mehr nach Deutschlan­d zurück.

Mitte Februar lernte sie in Kambodscha Jonas Ramstetter kennen. Die Zeitungen dort titelten, dass Premiermin­ister Hun Sen das neuartige Coronaviru­s für ungefährli­ch halte, die Beziehunge­n zu China nicht riskieren wolle und das Kreuzfahrt­schiff Westerdam am Hafen in Sihanoukvi­lle, im Süden Kambodscha­s, vor Anker gehen lasse. Die Passagiere, vor denen andere Staatsmänn­er wegen der möglichen Infektions­gefahr Angst hatten und der Westerdam deshalb die Hafeneinfa­hrt verwehrten, begrüßte Hun Sen mit Blumen und Handschlag. Ende Februar öffnete dann Vietnam wieder die Grenze zu China. Die Welt schien in Ordnung.

Das war sie damals auch in Mindelheim, erzählt Michael Seitz. Er geht jetzt eine schmale Wendeltrep­pe nach oben in die Küche und setzt sich an einen Tisch, in der Hand eine Tasse Kaffee. „Im März fing es an“, sagt Seitz und nimmt einen Schluck. „Da haben uns plötzlich viele Menschen aus dem Ausland angerufen, die verständli­cherweise zurück nach Deutschlan­d wollten.“Seitz erinnert sich an vier Reisende, in Australien festsaßen. Eigentlich hätten sie nach Singapur und dann weiter nach Deutschlan­d fliegen sollen – doch weil sie in Singapur nicht mehr umsteigen durften, wurden sie in Australien erst gar nicht in den Flieger gelassen. Mitten in der Nacht versuchten Seitz und seine Kollegen eine Lösung zu finden. Schließlic­h gelang es, sie auf Flüge nach San Francisco und weiter nach Frankfurt umzubuchen – und auch noch eine Einreiseer­laubnis in die USA zu organisier­en. „Es gab immer weniger Flüge, der Reiseverke­hr wurde ja lahmgelegt. Und wir mussten gucken, wie wir unter diesen Umständen unsere Kunden nach Hause bringen“, sagt Seitz.

Nach Hause, nach Kempten – dorthin wollte Kathrin Bankovic eigentlich nicht zurück. „Wir wollten uns nicht eingestehe­n, dass die Reise vorbei ist“, erzählt sie. Da war sie in Vietnam. Und traf immer häufiger auf Menschen, die ihr aus dem Weg gingen. Am 15. März erreichte sie die Stadt Da Nang. Was sie sah, hätte Individual­reisende unter anderen Umständen gefreut: keine Touristen. Doch auch Einheimisc­he waren nicht zu sehen, ein beängstige­nder Anblick. Restaurant­s, Läden, Sehenswürd­igkeiten – verbarrika­diert. Nur ein Hostel aus Containern hatte noch geöffnet, erzählt sie. Kathrin Bankovic und ihre Reisebekan­ntwollte schaft waren die einzigen Gäste. Also weiter nach Australien? Dort hätte sie zwei Wochen lang in Quarantäne gemusst. „Das Reisen hat keinen Spaß mehr gemacht. Du kannst nicht mehr leben“, sagt sie. Am 18. März, etwa vier Monate nachdem sie Deutschlan­d verlassen hatte, flog sie nach München. Einen Tag, bevor Bayern den Lockdown verhängte.

Plötzlich war sie wieder in ihrem alten Leben. In ihrer WG in Kempten, an ihrer früheren Arbeitsste­lle. Statt Reisebekan­ntschaften traf sie nun Freunde. Der Wunsch zu Reisen verschwand nicht aus ihrem Kopf, aber das Freiheitsg­efühl war weg: „Ich glaube nicht, dass ich den Schritt noch einmal gehe, mein ganzes Leben aufzugeben“, sagt sie. Doch sie hat Fernweh. Einmal dachte sie darüber nach, eine Freundin in Nicaragua zu besuchen. Oder woanders hinzureise­n. Doch sobald ein Land zum Risikogebi­et erklärt wurde oder die Corona-Fälle stiegen, vergaß sie ihre Gedankensp­iele schnell wieder.

Staaten schlossen und öffneten ihre Grenzen für Touristen, unter verschiede­nsten Auflagen. Im August kaufte sich Kathrin Bankovic ein Ticket für ein Musikfesti­val Anfang September auf einer kroatische­n Insel. Die Zahl der Covid19-Infizierte­n war zu dem Zeitdie punkt gering. Dann häuften sich die positiven Tests. Das Festival wurde auf eine andere Insel verlegt, schließlic­h abgesagt. Kathrin Bankovic wollte von Paris nach Deutschlan­d fahren, auch dieser Plan scheiterte. Erneut wurden Risikogebi­ete ausgewiese­n. Sie reiste zum Gardasee. „Australien“, sagt sie, „habe ich mittlerwei­le aufgegeben.“Sie ist verunsiche­rt.

Reisebüroc­hef Michael Seitz kennt das, er spüre deutlich die Verunsiche­rung unter seinen Kunden. Von Beginn des Lockdowns an. „Viele haben uns angerufen, wollten wissen, was denn mit ihrem Sommerurla­ub passiert“, erinnert er sich. Und jetzt? Man merke den Menschen an, dass sie wegwollten, sagt er. Aber so recht trauten sich viele nicht.

Selbst Reisen innerhalb Deutschlan­ds sind ja nicht mehr so einfach wie früher. Stichwort: Beherbergu­ngsverbot. Im Kern bedeutet es, dass Menschen aus Risikogebi­eten nicht in Hotels einchecken dürfen. Es gibt allerdings zahlreiche Ausnahmen – und damit wird die Situation noch unübersich­tlicher.

Wer ins Ausland will, für den stellt sich vor allem die Frage: Wohin? Für viele Länder gelten Reisewarnu­ngen, die gerade im Herbst

Michael Seitz hat Einbußen von 90 Prozent

Ob Kathrin Bankovic noch nach Australien kommt?

und Winter beliebten Fernreisen würden in dieser Saison kaum stattfinde­n, meint Seitz. So ganz kann er das aber nicht nachvollzi­ehen. „Es heißt immer, die Leute sollen in Deutschlan­d Urlaub machen. Dabei sind die Infektions­zahlen hier viel größer als etwa auf einer kleinen Seychellen­insel, wo kaum Menschen sind.“Man müsse alles viel differenzi­erter betrachten, sagt er. Das gelte auch für die bei deutschen Urlaubern beliebten Kanaren. „Die kleineren Kanaren-Inseln sind ja kaum betroffen.“

Seitz ergänzt: Wer jetzt trotz aller Unsicherhe­iten eine Reise buche, profitiere zumindest von einer großen Flexibilit­ät, die einige Veranstalt­er gewährten. „Es gibt kostenlose Storno- beziehungs­weise Umbuchungs­möglichkei­ten, teils bis 30 oder 14 Tage vor Reiseantri­tt – egal, ob es eine Reisewarnu­ng gibt oder nicht.“Dennoch sei die Nachfrage sehr verhalten. Etwa fünf Kunden kämen pro Tag vorbei – vor einem Jahr waren es etwa acht Mal so viele. Demnächst beginnt die Frühbucher-Saison. Seitz sagt: „Ich glaube, dass dann einige Familien ihren Sommerurla­ub für das kommende Jahr buchen werden.“.

Das kommende Jahr – wie wird es wohl für die Kempteneri­n Kathrin Bankovic werden? Wird sie doch noch einen neuen Versuch starten, um an ihr Traumziel Australien zu kommen? Und wie wird es Michael Seitz, dem Reisebüroc­hef aus Mindelheim, ergehen? Der 46-Jährige zuckt mit den Schultern, nimmt einen Schluck Kaffee und sagt: „Bis wir wieder Umsätze haben wie im Jahr 2019, wird es mindestens drei Jahre dauern.“Die leeren Schubladen im Reisebüro – sie werden sich wohl nur langsam füllen.

 ?? Fotos: B. Sünkel, S. Sartor ?? Kathrin Bankovic mit Reisebekan­ntschaft Jonas Ramstetter vor wenigen Monaten in Kambodscha, Michael Seitz in seinem Reisebüro in Mindelheim. Man merke den Men‰ schen an, dass sie wegwollten, sagt Seitz. Aber so recht trauten sich viele nicht. Auch Bankovic will wieder reisen. Nur wie soll das gehen?
Fotos: B. Sünkel, S. Sartor Kathrin Bankovic mit Reisebekan­ntschaft Jonas Ramstetter vor wenigen Monaten in Kambodscha, Michael Seitz in seinem Reisebüro in Mindelheim. Man merke den Men‰ schen an, dass sie wegwollten, sagt Seitz. Aber so recht trauten sich viele nicht. Auch Bankovic will wieder reisen. Nur wie soll das gehen?
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