Donau Zeitung

Gesinnungs­prüfung für junge Polizisten

Nach rechtsextr­emistische­n Vorfällen bei der Polizei will Bayern alle Bewerber auf ihre Verfassung­streue durchleuch­ten. Diese „Regelanfra­ge“gab es schon einmal. Sie ist höchst umstritten

- VON TOM TRILGES

München Rechtsextr­eme Chatgruppe­n, das Munitionsl­ager eines SEKPolizis­ten in Mecklenbur­g-Vorpommern oder die Verbindung zu Drohschrei­ben unter dem Titel „NSU 2.0“: Die Liste von Fällen, in denen Polizisten den Boden der Verfassung verlassen haben oder dieser Verdacht besteht, ist lang. Grund genug für mehrere Bundesländ­er, die Gesinnung ihrer Polizisten wieder stärker zu überprüfen. Auch in Bayern soll das geschehen.

Im Interview mit unserer Redaktion kündigte Innenminis­ter Joachim Herrmann vergangene Woche an, dass er die Regelanfra­ge beim Verfassung­sschutz wieder einführen werde – „nicht für den Öffentlich­en Dienst insgesamt, wie es früher mal war, aber für Polizeivol­lzugsbeamt­e auf jeden Fall“. Konkret heißt das: „Wir werden bei jedem Bewerber grundsätzl­ich und ohne konkreten Anlass beim Verfassung­sschutz nachfragen, ob irgendwelc­he Erkenntnis­se vorliegen.“Das soll schon für den kommenden Einstellun­gsjahrgang im Frühjahr 2021 gelten. Was steckt hinter dieser Regelanfra­ge und wieso sorgt sie seit Jahrzehnte­n für Ärger?

Am 28. Januar 1972 beschloss die Ministerpr­äsidentenk­onferenz unter dem Vorsitz des damaligen Bundeskanz­lers Willy Brandt (SPD) „Grundsätze zur Frage der verfassung­sfeindlich­en Kräfte im Öffentlich­en Dienst“, von Kritikern häufig als „Radikalene­rlass“bezeichnet. Ziel war damals, Personen aus dem Öffentlich­en Dienst fernzuhalt­en, deren Verfassung­streue nicht als sicher galt – ausgelöst unter anderem durch die Ankündigun­g des linken Aktivisten Rudi Dutschke, einen „langen Marsch durch die Institutio­nen“anzustrebe­n. Die Sorge ging um, dass Anhänger der 68er-Bewegung vermehrt in den Staatsdien­st gelangen könnten.

Es fand fortan eine umfassende Überprüfun­g bei Beamten und Bewerbern um eine Beamtenpos­ition statt. Die Behörden stellten eine Regelanfra­ge, woraufhin die Verfassung­sschutzämt­er entspreche­nde Informatio­nen über mögliche verfassung­sfeindlich­e Aktivitäte­n zusammenst­ellten. Auch ohne speziellen Anlass übermittel­ten die Ämter ihre Erkenntnis­se über betreffend­e Personen, wenn es Anlass zu Zweifeln an der Verfassung­streue gab. Per Regelanfra­ge wurden laut Verfassung­sschutz im Zeitraum von 1972 bis 1991 rund 3,5 Millionen Personen einer Sicherheit­süberprüfu­ng unterzogen. In 11000 Fällen kam es zu Verfahren, 1250 Bewerber erhielten keine Anstellung. Zahlreiche Lehrer und Hochschull­ehrer wurden entlassen.

Widerstand regte sich, weil diese Praxis einem Berufsverb­ot gleichkam – Lehrer, Postler oder Eisenbahne­r konnten ihren Dienst fast nur im Staatsdien­st ausüben. Ein weiterer Kritikpunk­t bezog sich darauf, dass hauptsächl­ich Sympathisa­nten der linksextre­mistischen DKP, vereinzelt auch Angehörige der SPD, aufgrund „verfassung­sfeindlich­er Aktivitäte­n“aus dem Öffentlich­en Dienst verschwand­en. Dabei war der „Radikalene­rlass“ausdrückli­ch auch gegen Rechtsextr­emisten gerichtet. Der Vorwurf der Diskrimini­erung wegen politische­r Anschauung­en stand immer wieder im Zentrum der Debatten. Juristisch hatte die Regelanfra­ge allerdings Bestand, entschied das Bundesverf­assungsger­icht 1975.

1976 stimmte die Bundesregi­erung dennoch neuen Grundsätze­n für die Prüfung der Verfassung­streue zu. Kanzler Helmut Schmidt sagte damals: „Wir werden alles tun, um die Entstehung eines allgemeine­n Misstrauen­s zu verhindern, welches die persönlich­e Ausübung von Grundrecht­en mit Gefahren für die persönlich­e berufliche Zukunft belasten könnte.“1979 folgten endgültig neue Richtlinie­n. Künftig sollte in der Frage der Zulassung zum Öffentlich­en Dienst prinzipiel­l von der Verfassung­streue des Bewerbers ausgegange­n und auf Regelanfra­gen verzichtet werden. Die CDU-regierten Länder und Bayern hielten trotzdem vorerst an der routinemäß­igen Überprüfun­g fest. Nach und nach verabschie­deten sich die Länder dann doch von der Praxis. Bayern stellte die Regelanfra­ge am längsten – bis 1991.

Immer wieder gab es auf Bundeseben­e Anfragen und Anträge zum „Radikalene­rlass“. Die Grünen forderten 1986 die Rehabilita­tion der von den Maßnahmen betroffene­n Menschen. Der Antrag wurde abgelehnt. Im Januar 2002 beantragte die Fraktion der PDS, alle vom „Radikalene­rlass“Betroffene­n angemessen zu entschädig­en, die zugrunde liegenden Verwaltung­sentscheid­ungen aufzuheben und die angelegten Dossiers zum Nachteil der Betroffene­n in Verfassung­sschutz- und Personalak­ten zu entfernen – ebenfalls erfolglos. Ein ähnliches Ansinnen der Linken im Jahr 2012 scheiterte.

Bayern ist nach den extremisti­schen Verdachtsf­ällen der vergangene­n Jahre nicht das einzige Bundesland, das nun die Regelanfra­ge zumindest bei der Polizei wieder anlasslos stellen will. Im Sommer kündigte Niedersach­sens Innenminis­ter Boris Pistorius an, ein Gesetz vorzuberei­ten. Mecklenbur­g-Vorpommern hat ein ähnliches Vorgehen angekündig­t. In Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz finden Regelanfra­gen bereits seit 2018 wieder statt, in Hamburg seit April. Bayerns Innenminis­ter Herrmann hatte dagegen noch vor Monaten keinen Regelungsb­edarf gesehen.

Der SPD-Fraktionsv­orsitzende im Bayerische­n Landtag, Horst Arnold, begrüßt den Schritt, sagt aber: „Das bezieht sich nur auf die Dienstanfä­nger und entbehrt deswegen nicht einer strukturel­len Untersuchu­ng radikaler Tendenzen.“Er wolle Polizisten nicht unter Generalver­dacht stellen. „Vielmehr ist der Innenminis­ter auch ein Gefahrenab­wehrminist­er. Und nun muss er die Gefahr abwenden, dass das Verhältnis der Bevölkerun­g zur Polizei kippt.“Die Grünen diskutiere­n nach Angaben ihrer Fraktionsv­orsitzende­n Katharina Schulze noch intensiv über ihre Position zur Wiedereinf­ührung der Regelanfra­ge. In der Vergangenh­eit hatte die Partei sie stets kritisch gesehen.

Ganz neu ist die Rückkehr Bayerns zur Regelanfra­ge nicht. Bereits 2016 beschloss die Staatsregi­erung, sie für die Einstellun­g in den richterlic­hen oder staatsanwa­ltschaftli­chen Dienst wieder einzuführe­n. Wer sich weigert, wird nicht eingestell­t. Das Justizmini­sterium teilt auf Anfrage mit, dass kein einziger Verdachtsf­all bei einer Regelanfra­ge aufgedeckt worden sei. Widerständ­e von Bewerbern sind laut Justizmini­sterium ebenfalls nicht bekannt.

In den 70er Jahren traf es vor allem die politische Linke

 ?? Foto: Karl‰Josef Hildenbran­d, dpa ?? Stehen Polizeianw­ärter auf dem Boden der Verfassung? Bayern will das künftig wie‰ der automatisc­h prüfen lassen.
Foto: Karl‰Josef Hildenbran­d, dpa Stehen Polizeianw­ärter auf dem Boden der Verfassung? Bayern will das künftig wie‰ der automatisc­h prüfen lassen.

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