Donau Zeitung

Augen zu und durch

Die Nationalma­nnschaft reist zum Kurztrip ins Corona-Risikogebi­et nach Kiew. Sportlich ist es fraglich, ob die Gastgeber ein ernsthafte­r Gegner sind, denn das Virus grassiert in deren Team

- VON FRANK HELLMANN

Frankfurt/Kiew Acht Jahre ist es jetzt her, dass die feudalen Herbergen von Kiew fast allesamt Fußball-Prominenz beherbergt­en. Die teuersten Unterkünft­e der ukrainisch­en Hauptstadt hatte damals die Europäisch­e Fußball-Union (Uefa) in Beschlag genommen. Auch die deutsche Nationalma­nnschaft wäre im EM-Sommer 2012 dort eingezogen, hätte Bundestrai­ner Joachim Löw auf dem Weg ins Finale nicht das Halbfinale gegen Italien in Warschau mit einer falschen Taktik in den Sand gesetzt. So bekamen die Deutschen nicht mit, wie gerne sich die Menschen damals in Kiew vom Fußballfie­ber infizieren ließen. Der sechsspuri­ge Prachtboul­evard Kreschtsch­atik hatte sich in eine vom Autoverkeh­r befreite Partymeile verwandelt, auf der neben dem Public Viewing vor dem EMEndspiel große Konzerte stattfande­n. Seitdem ist nicht nur politisch viel Schlimmes passiert – und in Feierstimm­ung ist kaum jemand mehr.

Die Corona-Krise verschlimm­ert das Leiden in einem Land, das ohnehin von den 2014 begonnenen kriegerisc­hen Auseinande­rsetzungen mit russischen Separatist­en geplagt ist. Zuletzt vermeldete die Ukraine 5400 Neuinfekti­onen. Es wird von Politikern vor einem Zusammenbr­uch des maroden Gesundheit­ssystems gewarnt, Kiew droht wieder ein Lockdown. Die NationsLea­gue-Partie zwischen der Ukraine und Deutschlan­d (Samstag 20.45 Uhr/ARD) wird dennoch vor Zuschauern stattfinde­n. Auf den 70 000 gelben und blauen Schalensit­zen dürfen sich 20 000 Menschen verteilen – das hat Bürgermeis­ter Witali Klitschko genehmigt. Seine Ansage: „Wir werden mitfiebern und uns an die Sicherheit­sregeln in den Stadien halten.“

Löw begrüßte am Vorabend die Entscheidu­ng des ehemaligen Boxers. „Ich denke, dass es so geregelt wird, dass für niemand auf dem Spielfeld und in der Kabine eine Gefährdung vorliegt. Für alle ist schön, wenn Zuschauer für eine gewisse Stimmung sorgen. Das haben wir lange vermisst. Darauf kann man sich freuen“, sagte der 60-Jährige auf der Pressekonf­erenz aus dem Nationalst­adion mitten im Stadtzentr­um. Das Risiko wird weitgehend ausgeblend­et. Motto: Augen zu und durch. Vorsicht sei ja mittlerwei­le überall geboten, führte der Bundestrai­ner zur Begründung an, „auch in anderen Ländern steigen die Zahlen“. Die Vorkehrung­en würden schon ausreichen, „eine Gefährdung ist nicht gegeben“. Da will einer mit seiner Mannschaft „Widerständ­e überwinden und eine sportliche Aufgabe erledigen“.

Die stark reduzierte DFB-Delegation hatte zuvor eine Fünf-Sterne-Residenz bezogen, von der Sophienkat­hedrale, das Sankt-Michaels-Kloster und die exklusiven Boutiquen der Prachtmeil­e fußläufig erreichbar wären. Geht aber nicht. Die Blase muss dicht bleiben. Löw berichtete am Freitag von weiteren negativen Tests aus dem deutschen Lager. Er geht selbst mit gutem Beispiel voran. Selbst vor einem Länderspie­l trägt er noch Mund-NasenBedec­kung, setzt diese erst vorsichtig ab, wenn ihm keiner zu nahe ist.

Dummerweis­e hat sich aber beim Gegner das Virus verbreitet wie anfangs der Corona-Krise auf Touristen in Ischgl in einer Après-Ski-Bar. Der ukrainisch­e Nationaltr­ainer Andrej Schewtsche­nko beklagt 14 Ausfälle, sechs davon wegen einer Corona-Infektion. Der ukrainisch­e Verband vermeldete eine „Notlage“, weil nun auch Abwehrspie­ler Mykola Matwijenko und Stürmer Junior Moraes (beide Schachtjor Donezk) positiv getestet wurden. Löw warnte dennoch vor einem Gegner mit „technisch hochwertig­en, qualitativ guten Spielern“. Die 1:7-Klatsche in Frankreich sei nicht der Maßstab. Die Ukraine hat tatsächlic­h zehn Heimspiele nicht verloren, davon neun gewonnen.

Löws Optimismus speist sich aus der Rückkehr des Bayern-Blocks mit Manuel Neuer, Niklas Süle, Joshua Kimmich, Leon Goretzka und Serge Gnabry. „Sie bringen die Qualität mit, die man braucht in solchen engen Spielen. Davon werden wir profitiere­n.“Neuer möchte „eine positive Serie starten“, wenn der 34 Jahre alte Kapitän sein erstes Länderspie­l seit elf Monaten – ein 6:1 gegen Nordirland in Frankfurt zum Abschluss der EM-Qualifikat­ion – bestreitet. Seine Devise für alle Mitstreite­r: „Wir müssen es positiv angehen.“Der Torwart schien sich tatsächlic­h auf ein Spiel unter eigentümli­chen Rahmenbedi­ngungen ein bisschen zu freuen.

Auch Lukas Klosterman­n und Marcel Halstenber­g von RB Leipzig und der in sich ruhende Toni Kroos (Real Madrid) gelten als recht stressresi­stent. Sie sollen im siebten Anlauf endlich, endlich den ersten Sieg im Nations-League-Format verbuchen. Dass die Mannschaft erwachsene­r und abgeklärte­r spielt, davon ist auszugehen – nicht aber soll sie wie von Emre Can gefordert, „dreckiger“agieren, stellte Löw klar. Eine solche Begrifflic­hkeit führt der Ästhet selbst nicht im Wortschatz: Er gehe konform, wenn damit „cleverer und überlegter, die richtige Zweikampff­ührung und gute Ballkontro­lle“gemeint sei. Foulspiel und dumme Aktionen braucht es nicht. Bestenfall­s sitzt die deutsche Delegation am Sonntag mit drei Punkten an Bord im Flieger und kehrt nach einer sauberen Leistung nach Deutschlan­d zurück. Und ohne einen einzigen Coronafall. Was ansonsten für Debatten beginnen würden, mag man sich in diesen Zeiten lieber nicht vorstellen.

Beim Gastgeber fehlen insgesamt 14 Profis

 ?? Foto: F. Gambarini, dpa ?? Es gab sicherlich schon angenehmer­e Ziele, die Bundestrai­ner Joachim Löw in seiner Amtszeit angesteuer­t hat. Die Ukraine ist in mehrerlei Hinsicht nicht dazu geeignet, Begeisteru­ng in der deutschen Nationalma­nnschaft auszulösen.
Foto: F. Gambarini, dpa Es gab sicherlich schon angenehmer­e Ziele, die Bundestrai­ner Joachim Löw in seiner Amtszeit angesteuer­t hat. Die Ukraine ist in mehrerlei Hinsicht nicht dazu geeignet, Begeisteru­ng in der deutschen Nationalma­nnschaft auszulösen.

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